1883, Briefe 367–478
446. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Sils-Maria, 3. August 1883>Freitag.
Mein lieber Freund, ich fürchte, daß es Post-Unfug gegeben hat: bis heute ist Nichts von Ihren Correcturen in meine Hände gelangt, wohl aber Ihre Karte, die mit der Absendung des ersten Bogens gleichzeitig ist: und inzwischen müssen Ihnen noch 2 Bogen zugegangen sein. Was thun! Ich vertraue mir selber nicht in Betreff jener feinen Kleinigkeiten der Correctur, die Ihr Auge und Ihr Geschmack sieht — ja nicht einmal in den groben „Großigkeiten“ vertraue ich mir.
Ihr Brief gab mir wieder zu denken und dafür dankbar zu sein, was für ein guter Leser Sie sind — und wie Sie nicht nur das „zwischen den Zeilen Stehende“ lesen, sondern auch das, was zwischen ihnen stehen sollte, aber nicht dasteht! Im Übrigen sehen wir zu, was Zarathustra selber zu Ihrem Briefe zu sagen hat; und es stünde schlimm, wenn er dazu gar Nichts zu sagen hätte.
Ihre Farben-Bemerkung über „Gewitterhaft-Violett“ war mir interessant, und in gleichem Maße wie Ihre vorjährigen Worte über die Farben meiner „Musik“ — sit venia verbo! Auch, was Sie über „complementirende Menschen“ sagen, gehört noch in dies Bereich Ihres venezianischen Farbensinns: ich selber könnte mir sehr gut Wesen vorstellen, welche sich so zu allen anderen verhalten wie Erlösungen, Zwecke und Rechtfertigungen, — aber ich fand Niemanden der Art. Mein Glaube ist, daß es höhere und tiefere Menschen giebt, und viele Stufen und Distanzen; und es ist unerläßlich, daß der höhere Mensch nicht nur höher steht, sondern auch den Affect der Distanz fühlt und zeitweilig zu erkennen giebt — unerläßlich mindestens dafür, daß sein Höher-sein wirkt, also höher macht. Wenn ich den ersten Zarathustra ganz verstehe: so will er eben an solche sich wenden, welche im Gedränge und mitten im Gesindel lebend entweder ganz und gar die Opfer dieses Distanz-Affektes werden (des Ekels, unter Umständen!) oder ihn ablegen müssen: denen redet er zu, sich auf eine einsame glückselige Insel zu flüchten — oder nach Venedig. —
Gerade Epicur gilt mir als negatives Argument für meine Forderung: bis jetzt hat es ihm alle Welt entgelten lassen, und schon von seiner Zeit an, daß er sich verwechseln ließ und es mit der Meinung über sich leicht, göttlich-leicht nahm. Schon in der letzten Zeit seiner Berühmtheit haben sich die Schweine in seine Gärten gedrängt; und es gehört zu den großen Ironien der fama, daß wir einem Seneca zu Gunsten der Epikurischen Männlichkeit und Seelenhöhe Glauben schenken müssen — einem Menschen, dem man im Grunde immer sein Ohr, aber niemals „Treu und Glauben“ schenken sollte. In Corsica sagt man: Seneca è un birbone. —
Eben erfuhr ich, daß ich wieder einmal dem Tode entgangen bin: denn es war eine Zeitlang höchst wahrscheinlich, daß ich den Sommer auf Ischia, in Casamicciola, zubringen würde.
Adieu, mein lieber, lieber Köselitz! In Ihrer Umarbeitung von „Sch<erz>, L<ist> und R<ache>“ liegt viel Charakter, guter Charakter — bravo! bravissimo!
Ihr Freund Nietzsche.