1883, Briefe 367–478
369. An Franz Overbeck in Basel
<Rapallo, 20. Januar 1883>
Lieber Freund,
es geht gar nicht gut, und am besten wäre es, ich schwiege davon. Am Anfang Februar will ich nach Genua übersiedeln — ich werde in dem gleichen Hause wohnen, wo ich vorigen Winter verlebte. Einen Ofen werde ich nicht haben — ich habe auch hier keinen. Gefroren hab ich diesen Winter wie noch nie, auch nie so schlecht gegessen. Übrigens geht die Gesundheit stark rückwärts.
Ich verstehe jetzt, welchen Werth für alle Einsiedler der Menschenhaß gehabt hat. Leider bin ich zum Gegentheil geartet. Auch wünschte ich, ich hätte einen felsenfesten Glauben an mich selber: aber dazu bin ich noch weniger angelegt. Ich bin schon viel zu viel krank dazu: und jeder Umschlag des Wetters, jeder trübe Himmel bringt in mir eine große Beängstigung hervor. Das Wetter letzten Sommers in Deutschland und diesen Winters hier ist das Schlimmste, was mir an physischen Widerwärtigkeiten begegnen kann. Im Grunde ist „die fröhliche Wissenschaft“ nur eine überschwängliche Art sich zu freuen, daß man einen Monat reinen Himmel über sich gehabt hat. Man wird eben als Leidender sehr bescheiden und übertrieben dankbar gesinnt — was ich auch in Bezug auf andre Dinge im verflossenen Jahre viel zu viel gewesen bin.
Das „moralische“ Schluß-Ergebniß dieses bösen Jahres heißt so: man hat mich dasselbe Gift hundertmal und in den verschiedensten Dosen schlucken lassen, das Gift „Geringschätzung“, von der schnöden Gleichgültigkeit an bis zur tiefen Verachtung. Das hat bei mir einen Zustand hervorgebracht wie bei einer Phosphorvergiftung: ewiges Erbrechen, Kopfschmerz, Schlaflosigkeit usw. Ich habe Jahre lang nichts von außen her erlebt: im verflossenen Jahre aber sehr viel, leider immer dasselbe. Drum werde ich’s so schwer los. Das beneficium mortis erlange ich aber nicht von mir — ich will noch etwas von mir und darf mich durch schlechtes Wetter und schlechten Ruf daran nicht hindern lassen.
Deutschland ist jetzt für mich eine üble Gegend: gerade die Art Menschen, welche ich dort achte, ist mir äußerst abgeneigt; und die Deutschen sind so ungeschickt in ihren Abneigungen, daß sie immer gleich auch taktlos-unhöflich werden. Ich bin als Student achtungsvoller behandelt worden als im letzten Jahre.
So weiß ich denn gar nicht, wo ein, wo aus. Wüßte ich Jemanden, der mich nach Spanien begleitete! Für Europa sind dort die besten Möglichkeiten reinen Himmels. (Ich bin durch eine Abhandl. in Perthes geogr<aphischer> Zeitschrift sehr gut über Mittelmeer-Klima unterrichtet.)
Frau Rothpletz erfreute mich Neujahr mit einem äußerst gütigen Briefe: sie stellt die Möglichkeit hin, daß wir uns alle zusammen im Sommer wiederfinden — etwa in Tirol oder Südbayern. Aber, wie gesagt, ich fürchte Deutschland.
Ich habe einiges Vertrauen zu irgend einer grandiosen Alpen-Wildniß: ich muß mir Muth machen.
Und immer mehr sehe ich ein, daß ich nicht mehr unter Menschen passe — ich mache lauter Thorheiten (ich bin, im Vertrauen gesagt, 1) viel zu aufrichtig und 2) bis zum Exceß gutmüthig, so daß alles Unrecht immer auf mir liegen bleibt — was auf die Dauer ein sehr übles Resultat giebt.
Adieu, mein lieber Freund, ich bemühe mich allen denen wohlwollend und gerecht zu sein, welche es nicht gegen mich sind.
Den herzlichsten Gruß an Deine liebe Frau, und die besten Wünsche für Euch Beide.
F.N.
Köselitzens Erlebnisse haben manches Parallele mit den meinigen. Aber er hat einen Vorsprung vor mir: er ist vollkommen gesund.