1883, Briefe 367–478
425. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria,> 21 Juni 1883.
Meine liebe Mutter und Schwester, dieser Brief wird, wie ich hoffe, Euch wieder bei einander finden; und vielleicht kommt er, wenn Ihr gerade von mir sprecht — nun, ich denke, nichts Schlimmes!
Inzwischen gieng es mir hart. Ich traf im Engadin bei Regen ein und recht durchgefroren: einige Stunden später war Sils-Maria eingeschneit. Ich blieb bis Mittwoch im Hôtel, leider heimgesucht vom bösen Kopfschmerz — dank dem unglaublichen Wetter. Es hat hier „immer geregnet“ — ganz so, wie man mir’s am Lago maggiore sagte. Die Gegend und ganze Art des Engadin gefällt mir wieder ausnehmend, es bleibt mir die liebste Gegend — aber es muß wärmer werden! Hier in meinem ungeheizten Zimmer fühle ich mich schlechter als in den kältesten Januartagen der Genueser Küste. Zudem fehlen immer noch (heute Donnerstag!) meine Sachen aus Rom.
Die Leute sind so gut gegen mich und freuen sich meiner Wiederkehr, zumal die kleine Adrienne. Im Hause selber, wo ich wohne, kann ich engl. Biskuits, Corned-beef, Thee, Seife und eigentlich alles Mögliche kaufen: das ist bequem.
Irgend ein reicher Freund sollte mir hier ein Haus von 2 Zimmern bauen: denn auf die Dauer mag ich in diesem ganz niedrigen, weißgetünchten Raum nicht leben. Daß ich aber noch manchen Sommer hier herauf muß — ist mir sehr wahrscheinlich.
Ihr könnt nicht glauben, wie melancholisch ich in der Ebene bin. — Hier oben bin ich mehr chez moi. —
Nun bitte, bitte: eine große Wurstsendung! Etwas recht Gutes! Auch eine Schinkenwurst dabei! Natürlich auf meine Unkosten! Aber recht bald, daß ich mich von innen her erwärme.
Wie kam’s doch, daß ich mich für die schwarze Weste nicht bedankt habe? Sie sitzt gut und war mir sehr nützlich. Dagegen sind meine 4 Paar weiße Hosen eine Ironie auf diesen Engadiner „Winter“. —
Glücklicherweise bin ich jetzt durch 3 Jahre eingeschult, Kälte zu ertragen.
Meine Stimmung ist gut.
Euch herzlich zugethan
Fritz.
Notiz, die allein von unsrer Mutter gelesen werden darf: bitte, besorge in meinem Namen für den 10. Juli Jakob Burckhardt, Der Cicerone. Neueste Auflage.