1883, Briefe 367–478
452. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Sils-Maria, 16. August 1883>
Woher, lieber Freund, haben Sie nur alle diese herrlichen Epicurea? Ich meine nicht nur Epikurische Worte, sondern alles das von Epicur’s Garten-Luft und -Duft, was mir aus jedem Ihrer neuerlichen Briefe entgegenkommt. Ach, ich hätte dergleichen so nöthig — eingerechnet das göttliche Kunststück „den Massen auszuweichen“. Denn, die Wahrheit zu sagen, ich bin beinahe zerdrückt. — Doch ich will von Anderem sprechen.
Das Schicksal Ischia’s hat mich immer mehr erschüttert; und außer alle dem, was jeden Menschen angeht, giebt es Etwas daran, das mir persönlich nahe geht, auf eine eigne schauerliche Weise. Diese Insel lag mir so in den Sinnen: wenn Sie Zarathustra II zu Ende gelesen haben werden, wird dies Ihnen deutlich sein, wo ich meine „glückseligen Inseln“ suchte. „Cupido mit den Mädchen tanzend“ ist nur in Ischia sofort verständlich: (die Ischiotinnen sagen „Cupedo“). Kaum bin ich mit meiner Dichtung fertig, bricht die Insel in sich zusammen. — Sie wissen, daß in der Stunde, in der ich den ersten Zarath<ustra> im Druck-Manuscript vollendete — Wagner gestorben ist. — Dies Mal bekam ich in der entsprechenden Stunde Nachrichten, die mich so empörten, daß es wahrscheinlich diesen Herbst ein Pistolen-Duell giebt. Silentium! Lieber Freund! — —
Inzwischen habe ich die Skizzen zu einer „Moral für Moralisten“ gemacht und in vielen Punkten mich geordnet und zurechtgerückt. Die durchgehende unbewußte ungewollte Gedanken-Congruenz und -Zusammengehörigkeit in der buntgeschichteten Masse meiner neueren Bücher hat mein Erstaunen erregt: man kann von sich nicht los, deshalb soll man es wagen, sich weithin gehen zu lassen. —
Ich gestehe, was ich mir jetzt sehr wünschte — daß einmal ein andrer Mensch eine Art Résumé meiner Denk-Ergebnisse machte und mich selber dabei in Vergleichung zu bisherigen Denkern brächte. Es verlangt mich, aus einem wahren Abgrunde unverdientester und sehr ausgedehnter Geringschätzung heraus, in welchen mein ganzes Thun und Trachten seit 1876 steht, nach einem „Wort der Weisheit“ über mich.
Zarathustra-Bogen sind ausgeblieben — ich mag nicht an Schm<eitzner> schreiben; ich glaube, daß es ihm nicht gut geht, in Folge dieser Antisemitica. Vom ersten Z<arathustra> ist noch kein Exemplar in die Welt gebracht; so viel ich verstehe und errathe, rückt Teubner die Exemplare nicht heraus, weil Schm<eitzner> ihm nicht seine Schulden bezahlen kann. Silentium! Bitte!! —
Ich gehe, soweit ich nicht krank bin (oder halb wahnsinnig, was auch vorkommt) mit Gedanken über eine Rede herum, die ich im Herbst in Leipzig an der Universität halten will: „die Griechen als Menschenkenner“ ist das Thema. Ich habe nämlich den ersten Schritt dazu gethan, um dort an der Universität Vorlesungen halten zu können — zunächst, für 4 Semester, eine Schilderung der „griechischen Cultur“ — wozu ich hier mir einen Entwurf machte. Silentium zum dritten Male! —
Inzwischen kann alles Mögliche geschehn. Ach, Freund, wohin ist jener Monat des Sanctus Januarius!!! Seitdem bin ich wie zum Tode verurtheilt und nicht nur zum Tode, sondern zum „Sterben“.
Leben Sie wohl! Wer steht mir jetzt so nahe wie Sie?
Ihr Nietzsche.