1883, Briefe 367–478
429. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, Anfang Juli 1883>
Meine liebe Schwester
nun bin ich auch in Besitz Deines Briefes, wie ich schon längst im Besitz und Genuß Deiner Baseler Sendung bin; und ich wünschte Etwas zu haben, das ich Dir entgegen senden könnte, um nicht bloß mit Worten der Dankende zu sein. Aber Sils-Maria ist eine Art Ende der Welt; in Naumburg ist man „der Welt“ viel näher; leider, wie ich aus Deinem Briefe mit Betrübniß entnehme, auch „der bösen Welt“. Mach Dir doch ja um meinetwillen keine neuen Sorgen und Aufregungen; ich weiß es so schon gar nicht wieder gut zu machen, daß ich Dir in den letzten 12 Monaten der Störenfried Deines Lebens werden mußte.
Es war gut, daß wir in Rom zusammen waren; und wenn ich auch zu den schweigsameren Menschen gehöre, so wirst Du doch genug gehört und errathen haben, um zu wissen, wie es mit mir steht. — Das, was der Mensch sein Ziel nennt (das, woran er im Grunde bei Tag und Nacht denkt): das legt eine wahre Eselshaut um sein Wesen, so daß man ihn beinahe todtschlagen kann — er überwindet’s und geht, als der alte Esel, mit dem alten I-A seinen alten Weg. So steht’s jetzt mit mir. —
Hier habe ich mich auf 3 Monate eingemiethet: in der That, ich bin der größte Thor, wenn ich mir durch italiänische Luft den Muth nehmen lasse. Hier und da taucht der Gedanke in mir auf: was geschieht nachher? (Schreibe mir doch einmal über den Eindruck, den Lugano auf Dich gemacht hat.) Meine „Zukunft“ ist mir die dunkelste Sache von der Welt; da ich aber noch viel fertig zu machen habe, sollte ich auch nur an dieses Fertig-machen als meine Zukunft denken und das Übrige Dir und den Göttern überlassen. - - -
Die Gegenwart verlangt übrigens — Würste und Schinken: alle übersandten Fressalia habe ich mit dem größten Danke gegen die Geberin aufgespeist, insgleichen mit dem besten Appetite: mein Magen ist ganz in Ordnung.
Sollte Dein Geburtstag in der Nähe sein? Ich habe nicht die geringste Ahnung mehr, ob es Juni oder Juli ist: so leben die Philosophen — ohne Zeit. — Für den genannten Fall habe ich unsrer guten Mutter einen Wink gegeben, der hoffentlich nicht zu spät gekommen ist. Unter allen Umständen bin ich Dein getreuer Bruder und habe die allerherzlichsten Wünsche für Dich jederzeit bei mir.
Dein F.
(Pfefferkuchen bekommt mir nicht in dieser Höhe.)