1883, Briefe 367–478
435. An Georg Rée in Stibbe (Entwurf)
<Sils-Maria, Mitte Juli 1883>
Unsre kurze Bekanntschaft von Leipzig her muß mich rechtfertigen, wenn ich heute an Sie schreibe, was ich Ihrem Bruder Paul selber nicht schreiben mag: daß jeder weitere Verkehr zwischen ihm und mir unter meiner Würde ist. Jetzt erst, fast ein Jahr zu spät kommen mir wesentliche Thatsachen zur Kenntniß, welche Ihren Bruder heillos vor mir compromittiren — nachdem ich inzwischen mir die höchste Mühe gegeben hatte, sein verdächtig gewordenes Benehmen gegen mich zu entschuldigen und ins mildeste Licht zu rücken. Es ist beinahe ein Zufall, daß ich jetzt davon erfahre: im vorigen Jahre, ebenso wie bei meinem diesjährigen Aufenthalte in Rom hatte ich immer verlangt, daß in meiner Gegenwart nicht von den häßlichen Vorgängen des vorigen Sommers geredet würde. Jetzt aber höre ich, daß die ganze abscheuliche Verunglimpfung, die mir und meiner Schwester von Frl. S<alomé> angethan ist, ganz und gar auf Ihren Bruder zurückfällt: daß dieses Mädchen eben nur das Mundstück für seine Gedanken gewesen ist — Bisher hat es Jedermann, mit dem ich mich in nähere Verbindung setzte, dies für eine Ehre und Auszeichnung gehalten: — ich halte es selber dafür — darüber sage ich kein Wort weiter. — Ihr Bruder hat diese Gesinnung gegen mich reichlich zur Schau getragen: aber, wie ich nun weiß, hinter meinem Rücken als schleichender, verleumderischer, verlogener Gesell an mir gehandelt. Er also ist es, welcher von mir als einem niedrigen Ch<arakter> und gemeinen Egoisten redet, der Alle nur zu seinen Zwecken ausbeuten wolle: er ist es, der mir vorwirft, ich hätte unter der Maske idealer Ziele in Bezug auf Frl. L<ou> die schmutzigsten Absichten verfolgt; er ist der, der es wagt, von meinem Geiste verächtlich zu sprechen, als ob ich ein Verrückter sei, der nicht wisse, was er wolle. — Nun verstehe ich es allerdings, wenn er mir diesen Winter schrieb, er habe gegen mich das Gefühl von Schuld — ohne sich näher darüber auszulassen. Ich mag alle diese schleicherischen Duckmäuser nicht, seine Art hat mir lange schon Bedenken gemacht, aber ich meinte, es sei ein Mensch, den anzutreiben und in geistiger Arbeit zu erhalten meine Schuldigkeit sei. Ich sagte ihm voriges Jahr einmal: „wir haben uns nie gezankt, aber auch nie übereingestimmt.“
Und so bleibt es dabei: Ihr Bruder gereicht mir, wie nicht minder Ihnen und Ihrer verehrungswürdigen Mutter zur Schande: ich habe lange nichts so Bitteres erlebt.
Unter dieses Wort Schuld fällt es vor Allem, wie schamlos er mich über Frl. S<alomé> belogen hat: er predigte von ihr, wie als ob sie zu gut für diese Welt sei, eine Märtyrerin der Erkenntniß von Kindesbeinen an, vollkommen selbstlos, als ob sie alles Glück und alles Behagen des Lebens für die Wahrheit zum Opfer gebracht hätte. — Nun Herr R<ée>, es wächst alle Jubeljahre Einmal ein M<ensch> dieser Art auf Erden: und ich würde um die Erde reisen, um ihn kennen zu lernen. Ich habe nun dieses Mädchen kennen gelernt und mit der größten Hartnäckigkeit versucht, den letzten Schatten jenes Bildes von ihr festzuhalten. Unmöglich! (ihre Mutter selber hat mich vor ihr gewarnt) Ich war einfach der Belogene: und so oft ich Ihrem Bruder mein sehr strenges Urtheil über den Charakter dieses Mädchens gab, meinen Sie, daß er je nur ein Wort der Entschuldigung und der Milde für sie gehabt hätte? Er sagte immer nur: Sie haben vollkommen über Lou Recht, aber es ändert meine Beziehungen zu ihr in Nichts“. Brieflich nannte er sie einmal sein Verhängniß: quel goût! Diese dürre schmutzige übelriechende Äffin mit ihren falschen Brüsten — ein Verhängniß!
Pardon!
Wie sie selber über Ihren Bruder spricht und denkt, das soll die Sache meiner Diskretion sein. In Leipzig rief sie ihn nie anders als Dreckel! was mich empört hat.