1883, Briefe 367–478
449. An Ida Overbeck in Steinach am Brenner
<Sils-Maria, kurz vor dem 14. August 1883>
Meine liebe Frau Professor,
ich will nur gleich noch einmal direkt an Sie schreiben und gut zu machen suchen, was ich mit dem letzten Briefe schlecht gemacht habe. Es muß ein sehr ungeschickter Brief gewesen sein, denn erstens hat er Sie betrübt, und zweitens hat er den Eindruck gemacht, als ob ich mich zu vertheidigen hätte. Die Wahrheit zu sagen: zur Moralität vermahnt zu werden macht mich ungeduldig, und der Ausdruck „falsches Mitleiden“, angewendet auf den tiefsten Schmerz meines Lebens, hat mir sogar wehe gethan. Aber das sind Empfindungen, die nicht zwei Tage bei mir anhalten, solchen Menschen gegenüber, von deren gründlichem Wohlwollen ich überzeugt bin. Übrigens ist die ganze böse Geschichte so complicirt, daß ich es hochzuschätzen habe, wenn Jemand ihretwegen „noch immer nicht ernstlich an mir irre geworden ist“ — so sehr ich auch das entgegen gesetzte Bewußtsein habe, das ich schon in meinem Briefe ausdrückte, das Bewußtsein, in meinem ganzen praktischen Verhalten zu Menschen niemals Höheres gewollt und niemals sublimer gehandelt zu haben. Was meine Schwester betrifft, so habe ich es weder im vorigen Jahre noch in diesem an Deutlichkeit darüber, was ich will, fehlen lassen; aber wenn man nicht zusammen lebt, so geschieht Manches, dessen Folgen man anzuerkennen hat, nachdem es nicht mehr möglich ist, es ungeschehn zu machen. Ich habe mich gewiß nicht gegen Sie über meine Schwester beklagt, sondern über das Fatalistische darin, daß Alles, was sie in dieser Sache gethan hat — und zwar zur Rettung und Wiederherstellung meiner Ehre (eingerechnet ihre eigne Genugthuung) — sich gegen mich wendet. Als ich gerade mit meinem zweiten Zarathustra fertig geworden war, (beiläufig: ich habe noch in keinem Jahre diese Höhen der Empfindung erreicht und bin wahrscheinlich deshalb der beneidenswürdigste aller Sterblichen) da bekam ich ganz unerwarteter Weise ihren Brief an Frau R<ée> nebst einigen Details über die ganze Geschichte, die mich dermaaßen empörten, daß ich an den Rittergutsbesitzer Rée, den Bruder meines ehemal. Freundes einen fulminanten Brief schrieb. Der hat mir darauf mit einem Injurien-Prozeß gedroht: und ich habe darauf mit etwas Anderem gedroht. Nun wollen wir sehen, wie die Sache weiter läuft. — Meine Schwester schrieb mir zuletzt noch, daß sie mir jene Dinge aus Schonung voriges Jahr verschwiegen habe; und in der That, vielleicht war es wirklich nöthig, mir diese ganze auf Jahre sich zurückerstreckende Enttäuschung tropfenweise und allmählich einzugeben — wahrscheinlich lebte ich andernfalls nicht mehr. Ich war voriges Frühjahr wie Einer, der viele, viele Jahre von außen her nichts mehr erlebt hatte; meiner Seele fehlte die Haut sozusagen und alle natürlichen Schutzmaaßregeln. Das, was ich von da an erlebt habe, ist so complizirt schmerzhaft, daß ich meine, es sei nach allen an mir überhaupt verwundbaren Stellen das Messer gestoßen worden.
Und nun noch ein Wort über Frl. S<alomé>. Ganz abgesehn von der idealistischen Beleuchtung, in der man mir sie vorgeführt hatte (als eine Märtyrerin der Erkenntniß fast von Kindesbeinen an und noch mehr Heldin als Märtyrerin) ist und bleibt sie mir ein Wesen ersten Ranges, um die es ewig schade ist. Gemäß der Energie ihres Willens und der Originalität ihres Geistes war sie zu etwas Großem angelegt: nach ihrer thatsächlichen Moralität mag sie freilich eher ins Zuchthaus oder Irrenhaus gehören. Mir fehlt sie, selbst noch mit ihren schlechten Eigenschaften: wir waren verschieden genug, daß aus unsern Gesprächen immer etwas Nützliches herauskommen mußte, ich habe Niemanden so Vorurtheilsfrei, so gescheut und so vorbereitet für meine Art von Problemen gefunden. Mir ist seitdem, als ob ich zum Stillschweigen oder zu einer humanen Heuchelei im Verkehre mit allen Menschen verurtheilt sei. —
Bitten Sie doch ja Freund Overbeck, daß er seinen herrlichen Gedanken eines Zusammentreffens in Schuls festhält. Und Sie selber, meine liebe verehrte Frau Professor, bleiben Sie mir gut und — zuversichtlicher!
Allseitig die besten Grüße!
Von Herzen Ihnen
ergeben — Nietzsche
Wir sind bei Bogen 4 Zarathustra II. Drucker ist Naumann: den ersten Theil rückt Teubner nicht heraus, wahrscheinlich, weil Hr. Schm<eitzner> seine Schulden nicht bezahlen kann. —