1883, Briefe 367–478
433. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Sils-Maria, 13. Juli 1883>
Lieber Freund,
ich hatte rechte Sehnsucht nach einem Briefe von Ihnen; und als ich vorgestern das Ersehnte Mittags auf meiner Serviette liegend fand, glaubte ich, daß mir lange keine bessere Mahlzeit aufgetischt sei. Es war ein Klang aus Ihrer Musik in Ihren Gedanken, das erquickte mich — ob es mir gleich wieder einen Heißhunger nach dieser Musik machte, der ja jetzt unstillbar scheint. Wenigstens möchte ich nicht deswegen die Cholera nach Venedig beschwören, daß Sie von dort flüchten müßten! (Es gehört zu den schauerlichen Erinnerungen aus meiner Studentenzeit, daß ich eine Nacht mit einer Cholera-leiche zugebracht habe)
Die Wünsche auf Ihrer Postkarte, die so geheimnißvoll klangen, müssen wohl gut auf mich gewirkt haben — vielleicht hat sich inzwischen gerade das erfüllt, was Sie mir im Stillen gewünscht haben.
Nicht wahr, lieber Freund? Dies ist eine allgemeine Wahrheit: „der zweite Vers ist schwerer, als der erste Vers“.
Nun, ich habe den zweiten Vers hinter mir — und jetzt wo er fertig ist, schaudert mir bei der Schwierigkeit, über die ich hinweg bin, ohne an sie gedacht zu haben.
Seit meinem letzten Briefe gieng es mir besser und muthiger, und mit Einem Male hatte ich die Conception zum zweiten Theile Zarathustra — und nach der Conception auch die Geburt: Alles mit der größten Vehemenz.
(Dabei ist mir der Gedanke gekommen, daß ich wahrscheinlich an einer solchen Gefühls-Explosion und -Expansion einmal sterben werde: hol’ mich der Teufel!)
Das Manuscript für die Druckerei wird übermorgen fertig sein, es fehlen nur noch die letzten 5 Abschnitte; und meine Augen ziehn meinem „Fleiße“ Grenzen.
Wenn Sie die Schlußseite des ersten Z<arathustra> lesen, so werden Sie die Worte finden „— und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.
Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder, werde ich mir dann meine Verlorenen suchen; mit einer andern Liebe werde ich euch dann lieben.“
Dies ist das Motto zum zweiten Theil: aus ihm ergeben sich, was dem Musiker zu sagen fast unschicklich ist, andre Harmonien und Modulationen, als im ersten Theile.
In der Hauptsache galt es, sich auf die zweite Stufe zu schwingen, — um von dort aus noch die dritte zu erreichen <deren Name ist: „Mittag und Ewigkeit“: das sagte ich Ihnen schon einmal? Aber ich bitte Sie inständig, davon gegen Jedermann zu schweigen! Für den dritten Theil will ich mir Zeit lassen, vielleicht Jahre —)
Wenn ich nun wieder mit der Bitte zu Ihnen komme, mir bei der Correktur zu Hülfe zu kommen — so geht das eigentlich über alle Grenzen von Freundschaft und Schamhaftigkeit hinaus: und wenn Sie es nicht zu Stande bringen, mich darin zu rechtfertigen — ich bringe es nicht zu Stande!
Dabei bleibt Ihnen die Hoffnung, daß aus dem Drucke jetzt nichts wird. Vielleicht trenne ich mich von Schmeitznern: er behandelt unverhohlen seine antisemitische Agitation als eine weit wichtigere Angelegenheit als die Verbreitung meiner Gedanken. —
Geben Sie mir doch noch genaue Auskunft über die Schritte und Fortschritte Ihrer Partitur: Sie schwiegen so lange davon! Und welche Pläne giebt es? Und was macht die göttliche Nausikaa?
Von Herzen Ihr Freund
Nietzsche.