1887, Briefe 785–968
964. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza, pension de Genève den 20. Dez. 1887.
Lieber Freund,
ich war eben im Begriff, mich bei Ihnen nach Ihnen zu erkundigen: denn Ihr letzter Brief datirt vom 12. November. Ihre Karte giebt mir den schmerzhaften Verdacht ein, daß ein letzterer Brief nicht angelangt ist. Meine Mutter hat mir indessen mit vieler Freude und Dankbarkeit von einem sehr schönen Brief erzählt, den Sie ihr geschrieben haben, zusammen mit der Übersendung des Hymnus. Das war das Neueste, was ich von Ihnen wußte. Gestern habe ich endlich ein kleines Werk erkapert, das für jenes Problem, mit dem sich unsre letzten Briefe beschäftigten, ausgezeichnete Winke giebt: A. Pougin, die ersten Anfänge der französischen Oper. Das Entscheidende darin ist ein langer Brief jenes originellen Geistes, dem man die französische Oper verdankt, Perrin’s, von 1659. Darin wird methodisch, in 9 Rubriken, aufgezählt, was den Franzosen an der damaligen italiänischen Oper widerstand, und woraufhin die Neuerung gewagt wurde. Der Brief, im genannten Buche zum ersten Male wieder abgedruckt, ist ein capitales Faktum für die Culturgeschichte. —
Sie sehen, daß ich im Geiste bei Ihnen bin; und es gab noch ein besondres Ereigniß, wo ich Sie vermißt und verlangt habe, wie selten, nämlich die erste Aufführung von Carmen im großen italiänischen Theater — ein wahres Ereigniß für mich: ich habe in diesen 4 Stunden mehr erlebt und begriffen als sonst in 4 Wochen. Alle Ehre Herrn Sonzogno! Ausverkauftes Haus, viel vornehmste Welt (duc de Montpensier etc), ein unvergleichlich tragischer Eindruck, Alles hundert Mal spanischer als man es in Deutschland begreifen und goutiren würde. Wenn ich Sie wiedersehe, will ich Ihnen erzählen, was ich begriffen habe. Von einer Aufführung der pescatori habe ich nur den ersten Akt mir zugemuthet: das Werk ist noch ohne Gleichgewicht; der Einfluß der Vorbilder (Gounod, Fel. David, Wagner’s Lohengrin) unvermittelt und unüberwunden fühlbar. —
Zu Hegar’s Zurücksendung sage ich kein Wort. Die Kluft ist nach allen Seiten hin zu groß geworden; ich habe alle mögliche Art von Kasteiung nöthig, um nicht selber unter die Ressentiments-Menschen zu gerathen. Die Art Vertheidigungszustand, in den sich die mir von ehemals befreundeten M<enschen> gegen mich versetzen, hat etwas Agaçantes, das peinlicher wirkt als ein Angriff. „Nicht hören und nicht sehen“ — das scheint die Devise. Auf den Hymnus hat Niemand mehr geantwortet, außer Brahms (er schrieb „J<ohannes> B<rahms> erlaubt sich hierdurch seinen verbindlichen Dank für Ihre Sendung zu sagen: für die Auszeichnung, als welche er sie empfindet und die bedeutsamen Anregungen, welche er Ihnen verdankt. In hoher Achtung ergeben“) Auf das Buch hin gab es nur zwei Briefe, allerdings sehr schöne: einen von Dr. Fuchs; und einen von Dr. Georg Brandes (der geistreichste Däne, den es jetzt giebt d. h. Jude) Letzterer ist Willens, sich mit mir gründlich zu befassen: er ist erstaunt von dem „ursprünglichen Geiste“, der aus meinen Schriften spreche und gebraucht, zu deren Charakteristik, den Ausdruck „aristokratischer Radikalismus“. Das ist gut gesagt und empfunden. Ah, diese Juden! — Ein Paar Recensionen meines „Jenseits“, von Naumann mir übersandt, zeigen nur schlechten Willen: die Worte „psychiatrisch“ und „pathologisch“ sollen als Erklärungsgrund meines Buchs und als dessen Censur gelten. (Unter uns gesagt: die Unternehmung, in der ich drin stecke, hat etwas Ungeheures und Ungeheuerliches, — und ich darf es Niemandem verargen, der dabei den Zweifel hier und da in sich auftauchen fühlt, ob ich noch „bei Verstande“ bin)
Das Schönste nicht zu vergessen: mein alter Freund Gersdorff hat auf die rechtschaffenste und herzlichste Weise sein Verhältniß zu mir wieder hergestellt: das war ein förmliches Geschenk für mich. Er verlangt, daß ich ihn über Sie, lieber Freund, gründlich unterrichte, — ich werde es heute noch versuchen.
Ich bin arbeitsam, aber schwermüthig und noch nicht aus der vehementen Schwingung heraus, welche die letzten Jahre mit sich gebracht haben. Noch nicht „entpersönlicht genug“. — Trotzdem weiß ich, was gethan und abgethan ist: ein Strich ist unter meine bisherige Existenz gezogen — das war der Sinn der letzten Jahre. Freilich, ebendamit hat sich diese bisherige Existenz als das herausgestellt, was sie ist — ein bloßes Versprechen. Die Leidenschaft der letzten Schrift hat etwas Erschreckendes: ich habe sie vorgestern mit tiefem Erstaunen und wie etwas Neues gelesen.
Erzählen Sie mir, lieber Freund, von lauter guten Dingen!
Treulich Ihr N.