1887, Briefe 785–968
886. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria den 8. August 1887.
Lieber Freund,
Ihr Brief hat mich wieder so gerührt! Wenn ich nur irgend ein Mittel wüßte, Ihnen ein wenig nützlich sein zu können, statt Ihnen durch ungeschickte „Aufforderungen zum Tanz“ (zum verwünschten Tanz mit Postpferden, Eisenbahnen und Theaterbetriebs-Ochsen) zuletzt noch gar weh zu thun! Sehen Sie, ganz grob egoistisch geredet, läge mir eigentlich etwas daran, wenn Sie Ihre schönen Partituren und Klavierauszüge nicht wegschickten, damit ich dieselben im Herbste noch bei Ihnen vorfände (denn bisher ist es noch bei Venedig geblieben: Zwischenfälle und Überraschungen vorbehalten, die meine gute Absicht vernichten könnten). Aber es versteht sich hundert Mal von selbst, daß „Eins nothwendiger ist als das Andre“; und zuletzt wüßte ich für mich selbst wenig angenehmere Ereignisse als eine baldige Aufführung Ihres herrlichen Werks: selbst angenommen, was leider angenommen werden muß, daß ich bei ihr nicht zugegen bin. — Mir ist der Fall „Weimar“ inzwischen nicht aus dem Kopf gekommen. Bülow ist brüsk und excentrisch: berechenbar ist gar Nichts in diesem Falle, höchstens möglich, in dem Sinn als bei Gott nichts unmöglich ist. Was den neuen Weimarschen Chef angeht: so hat er vielleicht den Wunsch, sich mit einer Novität und Merkwürdigkeit zu präsentieren? Wäre es nicht möglich, ihm einen längeren Brief-Bericht zu senden, eine Art Selbstkritik des Werks, natürlich mit starker Hervorhebung des Stils, der Richtung, der gewissermaßen gerade jetzt nöthigen und prädestinierten Richtung einer solchen Musik? (Auch die leichte Aufführbarkeit, das Venetianische usw. wäre zu unterstreichen) Und dies, bevor das Manuscript abgienge; vielmehr letzteres für den Fall in Aussicht stellend, daß ein wirklicher Wunsch vorhanden sei, das Werk kennen zu lernen. Verfassen Sie einen kleinen Aufsatz, so gut und fein und überlegen, lieber Freund, wie jenen, den Sie mir nach Cannobio zusendeten, über die Vandalisirung Venedigs — und seien Sie mir nicht böse…
— Anbei folgt der Hymnus: Alles Weitere steht nun in Ihrer Hand! Ich lege einen Vorschlag zum Titelblatt bei: es versteht sich, daß Sie hierüber wie über die Noten eine unbeschränkte Freiheit (zu ändern) haben. Ein paar Fragezeichen meinerseits, die auf das Bescheidenste um Gehör bitten: —
Seite 3, vorletzter Takt: zur Verstärkung Alt mit Sopran unisono also die Altstimme

entsprechend p. 8 sechster Takt, wo die Verstärkung („und in der / Gluth, in der“) noch wesentlicher erscheint. Ebendaselbst, ein Takt vorher: wie wäre es, der Trompete hier zur Bekräftigung des c ein
zu geben?…
Seite 4, dritter Takt, entsprechend Seite 9: den Fagotten vielleicht diese kleine Bewegung des sonst zu starren Rhythmus anvertrauen — ?

Auf der allerletzten Seite bitte ich die Schluß-Interpunktion nach Pein zu ändern: nicht Ausrufezeichen, vielmehr drei Punkte: als welche mit ihrem ominösen Charakter hier wenn irgendwo am Platze sind. Also:
wohlan! Noch hast du deine Pein…
— Und wenn Sie zufrieden sind, dann den Stich fort an E. W. Fritzsch! —
Es ist möglich, daß alsbald auch Naumannsche Correkturen eintreffen: seien Sie, lieber Freund, geduldig! Zum Wenigsten verspreche ich Ihnen ein paar Überraschungen bei dieser „Streitschrift“. Sie ist in der That rasch beschlossen, begonnen und fertig gemacht: nach dem Postschein habe ich das Manuskript (zum 2. Mal) an Naumann am 30. Juli abgeschickt: der Anfang der Arbeit, leider nicht von mir notirt, muß gegen den 10. Juli gewesen sein. Bis dahin ungefähr war ich krank und extrem indisponirt.
Mit dem allerherzlichsten Gedenken an Sie, lieber Freund,
Ihr getreuer
Nietzsche
NB. Vor einigen Tagen habe ich an Frau Röder nach Arbon geschrieben, die sich freundlich genug mir ins Gedächtniß gerufen hat.
[Beilage]
Hymnus an das Leben
von
Friedrich Nietzsche.
Für Chor und Orchester bearbeitet von Peter Gast.
Gewiß, so liebt ein Freund den Freund,
Wie ich dich liebe, räthselvolles Leben!
Ob ich in dir gejauchzt, geweint,
Ob du mir Leid, ob du mir Lust gegeben,
Ich liebe dich mit deinem Glück und Harme,
Und wenn du mich vernichten mußt, Entreiße ich mich schmerzvoll deinem Arme, Wie Freund sich reißt von Freundes Brust.
Mit ganzer Kraft umfaß ich dich, —
Laß deine Flammen meinen Geist entzünden
Und in der Gluth des Kampfes mich
die Räthsellösung deines Wesens finden!
Jahrtausende zu denken und zu leben,
Wirf deinen Inhalt voll hinein!
Hast du kein Glück mehr übrig, mir zu geben,
Wohlan! Noch hast du — deine Pein…
L. S.
Leipzig,
Verlag von E. W. Fritzsch.