1887, Briefe 785–968
820. An Franz Overbeck in Basel
Nizza, Donnerstag 24. März <1887>
Lieber Freund,
eben erhalte ich Deine Nachrichten, — und in Anbetracht, daß ich Ende nächster Woche von hier fort will (auch fort muß), — so giebt es einen Grund mehr, Dir sofort zu antworten. Ich wünschte schreiben zu können: „auf Wiedersehn!“, aber meine Gesundheit verbietet mir einstweilen Zürich und was damit zusammenhängt: ich bin sonderbar angegriffen, die ganze Zeit über, müde, geistig und leiblich unlustig und zu Nichts nutz, auch gegen Lärm und das ganze kleine Ärgerniß des Lebens so ungeduldig, daß ich mich in Etwas ganz Stilles und Abgezogenes flüchten will: nämlich in einen waldigen und spaziergeherischen Ort am Lago maggiore — Canobbio mit Namen. In der Nähe davon steht ein mir gut empfohlenes Pensionshaus Villa Badia; die Besitzer sind Schweizer. Dorthin habe ich mich für den 4. April angemeldet. Venedig, das um diese Zeit des herankommenden Frühlings die Tradition für sich hat, auch meine ernsthafte Liebe (der einzige Ort auf Erden, den ich liebe) ist mir jedes Jahr schlecht bekommen: der Grund liegt in ganz bestimmten meteorologischen Faktoren, die mir nur zu gut bekannt sind. — Ist es möglich, daß ich etwa am Mittwoch oder Donnerstag nächster Woche die 1000 frs. in den Händen habe? —
Ein Dr. Adams ist, seit einem Monat etwa, hier, ein anscheinend begabter und tüchtiger Philologe aus der Schule Rohde’s und Gutschmidts, aber an aller Philologie leidenschaftlich degoutirt und durchaus entschlossen, sich der Philosophie zu weihen: weshalb er seine Wallfahrt hierher, zu seinem „Meister“, gemacht hat. Vielleicht gelingt es mir, ihn zu enttäuschen und aus der Unklarheit solcher Absichten herauszuziehn: ich führe ihn sanft zur Geschichte der Philosophie hinüber (er hat bisher „de fontibus Diodori“ gearbeitet), — es ist bereits nicht unmöglich, daß er meine im Stich gelassenen Laërtiana wieder aufnimmt! Das Ganze ist übrigens für mich eine Strapaze, die mich an eine frühere Strapaze (Tautenburger Sommer 1882) erinnert; und zuletzt kenne ich die Welt genug, um zu wissen, was in dergleichen Fällen „der Welt Lohn“ ist. — Die „jungen Leute“ sind mir zuwider. —
Anbei ein komisches Faktum, das mir mehr und mehr zum Bewußtsein gebracht wird. Ich habe nachgerade einen „Einfluß“, sehr unterirdisch, wie sich von selbst versteht. Bei allen radikalen Parteien (Socialisten, Nihilisten, Antisemiten, christl<ichen> Orthodoxen, Wagnerianern) genieße ich eines wunderlichen und fast mysteriösen Ansehens. Die extreme Lauterkeit der Atmosphäre, in die ich mich gestellt habe, verführt .. Ich kann meine Freimüthigkeit selbst mißbrauchen, ich kann schimpfen, wie es in meinem letzten Buche geschehn ist — man leidet darunter, man „beschwört“ mich vielleicht, aber man kommt nicht von mir los. In der „antisemitischen Correspondenz“ (die nur privatim versandt wird, nur an „zuverlässige Parteigenossen“) kommt mein Name fast in jeder Nummer vor. Zarathustra „der göttliche Mensch“ hat es den Antisemiten angethan; es giebt eine eigne antisemitische Auslegung davon, die mich sehr hat lachen machen. Beiläufig: ich habe „an zuständiger Stelle“ den Vorschlag gemacht, ein sorgfältiges Verzeichniß der deutschen Gelehrten Künstler Schriftsteller Schauspieler Virtuosen von ganz- oder halbjüdischer Abkunft herzustellen: das gäbe einen guten Beitrag zur Geschichte der deutschen Cultur, auch zu deren Kritik. (Bei dem Allen bleibt, unter uns gesagt, mein Schwager völlig aus dem Spiele; ich verkehre mit ihm sehr höflich, aber fremd, und so selten als möglich. Seine Unternehmung in Paraguay prosperirt übrigens; meine Schwester gleichfalls.)
Gesetzt, daß es mir in Canobbio nicht besser geht, gedenke ich einen Versuch mit einer kleinen Kaltwasserkur in Brestenberg zu machen. Ach, es ist Alles so unsicher und wacklig in meinem Leben; und dabei diese abscheuliche Gesundheit! Die Nöthigung andererseits liegt auf mir mit dem Gewicht von hundert Centnern, einen zusammenhängenden Bau von Gedanken in den nächsten Jahren aufzubauen — und dazu brauche ich fünf sechs Bedingungen, die mir alle noch fehlen und selbst unerreichbar scheinen! — Der vierte Stock der Pension de Genève, in dem der 3. und 4. Theil meines Zarathustra entstanden ist, wird jetzt völlig abgetragen, nachdem ihn das Erdbeben gründlich durcheinandergeschüttelt hat. Diese „Vergänglichkeit“ thut mir wehe. — Der Boden zittert immer noch gelegentlich. — Mit herzlichem Gruß und Wunsch, auch an Deine liebe Frau,
Dein Nietzsche
(Hoffentlich giebt es gute Nachrichten aus Teneriffa?)
Lecky habe ich selbst in Besitz: aber solchen Engländern fehlt „der historische Sinn“ und auch noch einiges Andre. Das Gleiche gilt von dem sehr gelesenen und übersetzten Amerikaner Draper. —