1887, Briefe 785–968
864. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria, Mittwoch. <22. Juni 1887>
Lieber Freund,
woran das hängt, — ich weiß es nicht: aber eine förmliche décadence ist bei mir ausgebrochen, meine Gesundheit übt ihre alten miserabelsten Weisen wieder ein, die Ermattung selbst an sogenannten „gesunden“ Tagen ist unheimlich, nachts versinke ich oft in eine Muthlosigkeit und Desperation, die mir Scham einflößt — und selbst das sublim-helle und bewiesene Wetter von Sils hilft mir nicht aus diesem „Verfall“! Dabei kommt nicht ein Laut aus der weiten weiten Welt, der meinem Herzen erquicklich klänge: Ihre „Laute“ abgerechnet, lieber Freund, — alles, was Sie mir geschickt haben — beide Sendungen glücklich angelangt! — klang mir wie Musik: und zuletzt bin ich ein alter Musikant, für den es keinen Trost giebt außer „in Tönen“! Glauben Sie mir, alle die kleinen Winke eines „Glaubensbekenntnisses“, wie sie Ihnen dem Kritiker entschlüpfen, machten mir ein Vergnügen, als ob es Musik aus dem segreto matrimonio selbst sei (— es ist nämlich kein Zweifel, daß ich im alleruntersten Grunde die Musik machen können möchte, die Sie machen — und daß ich meine eigne Musik (Bücher eingerechnet) immer nur gemacht habe faute de mieux…
Das erinnert mich an die eben erfolgte Ankunft der ersten fertigen Exemplare von Morg<enröthe> und Fröhl<iche> Wissenschaft: hoffentlich sind diese Bücher auch auf der Reise zu Ihnen? Und Sie werden sich die Laune nicht durch diese Ankömmlinge verderben lassen, an denen viel zu viel deutsches Ungenügen und trüber Himmel ist, als daß man ihnen nicht lieber aus dem Weg gienge? Himmel, was habe ich Alles ausgestanden, und wie sparsam sind die goldenen Tropfen des Lebens auf mich bisher niedergeträufelt! — Trotzdem: ich glaube, wie Sie, an diese goldenen Tropfen und mache mir nichts aus den Künstlern, die keinen Geschmack davon auf der Zunge haben. —
Ich las über Gozzi: z. B. daß Rich<ard> Wagner einen seiner ersten Texte aus ihm genommen hat („die Frau eine Schlange“); auch daß das „laute Geheimniß“ von Calderon ist und nur bearbeitet von Gozzi. — Der Dr. Widmann des „Bund“ lobt als angenehme Privatwohnung an der Riva die casa Petrarca, auch als Winteraufenthalt: eben da wohnen auch Paul Bourget und Gregorovius. Kennen Sie das Haus? — Ich selber habe mich für diesen Winter nach Rom versprochen: Malvida, die ihre jüngere Schwester verloren hat und nun ihrerseits glaubt an der Reihe zu sein, möchte mich noch einmal bei sich haben. Vielleicht, daß ich meine Hinreise über Venedig und Bologna einrichte… Denken Sie sich, daß in Zürich der treffliche Weber gestorben ist: allgemeine Trauer. —
Ein Wunsch zuletzt, den ich nicht unterdrücken kann: es sollte möglich sein, Ihre Urtheile und Werthschätzungen in Hinsicht auf Musik und Musiker beisammen zu haben, als ein hübsches Bändchen Aphorismen — sie müssen nämlich beieinander stehn und sich gegenseitig tragen, das Einzelne mag dann so kühn und auffallend klingen als es heute klingen muß… Ein solches kleines Buch und „Glaubensbekenntniß“ wäre unschätzbar als Herold Ihrer Musik — Sie sind der Einzige, der mit Wissen den ausgesuchten Geschmack auch vertreten kann, der als Instinkt in dieser Musik regiert. Treulich
Ihr Freund N.