1887, Briefe 785–968
804. An Franz Overbeck in Basel
<Nizza,> Mittwoch. (23 Feb. 87)
Lieber Freund
heute nur meinen Dank für Deinen Brief und die Geldsendung, die mich sehr beruhigt hat; ich war selten in meinem Leben so sehr am Ende meines „Lateins“. Übrigens bin ich krank, hüstele comme il faut, fröstele: dabei spielt sich der lärmende Carneval von Nizza fast vor meinem Fenster ab ..
Anbei ein Brief des Venediger maëstro, an dem Du, wie ich glaube, Freude haben wirst. Ich war so in Sorge! Aber es dreht sich zum Besseren. Eine kleine Machination, sehr indirekt, welche darauf abzielte, Herrn Hegar in Zürich zu einer Artigkeit gegen ihn zu veranlassen, scheint mir gelungen.
Gesetzt, daß ich diesen Frühling nach Zürich komme und Hegar bereit finde, mir den Mizka-Czàrdas vorzuführen, werde ich nicht versäumen, Dich dazu einzuladen.
Von Dostoiëwsky wußte ich vor wenigen Wochen auch selbst den Namen nicht — ich ungebildeter Mensch, der keine „Journale“ liest! Ein zufälliger Griff in einem Buchladen brachte mir das eben ins Französische übersetzte Werk l’esprit Souterrain unter die Augen (ganz so zufällig ist es mir im 21ten Lebensjahre mit Schopenhauer und im 35ten mit Stendhal gegangen!) Der Instinkt der Verwandtschaft (oder wie soll ich’s nennen?) sprach sofort, meine Freude war außerordentlich: ich muß bis zu meinem Bekanntwerden mit Stendhals Rouge et Noir zurückgehen, um einer gleichen Freude mich zu erinnern. (Es sind zwei Novellen, die erste eigentlich ein Stück Musik, sehr fremder, sehr undeutscher Musik; die zweite ein Geniestreich der Psychologie, eine Art Selbstverhöhnung des γνῶθι σαυτόν). Beiläufig gesagt: diese Griechen haben viel auf dem Gewissen — die Fälscherei war ihr eigentliches Handwerk, die ganze europäische Psychologie krankt an den griechischen Oberflächlichkeiten; und ohne das Bischen Judenthum usw. usw. usw.
Diesen Winter habe ich auch Rénans Origines gelesen, mit viel Bosheit und — wenig Nutzen. Diese ganze Geschichte kleinasiatischer Zustände und sentiments scheint mir auf eine komische Weise in der Luft zu schweben. Zuletzt geht mein Mißtrauen jetzt bis zur Frage, ob Geschichte überhaupt möglich ist? Was will man denn feststellen? — etwas, das im Augenblick des Geschehens selbst nicht „feststand?“ —
Lieber Freund, über das Deutschland, dessen Zeitgenossen wir sind, kein Wort! Ich lese eben Sybels Hauptwerk, in französischer Übersetzung, nachdem ich über die einschlägigen Probleme die Schule von Tocqueville und Taine durchgemacht habe — da finde ich z. B. diesen süperben Gedanken „c’est du régime féodal et non de sa chute, que sont nés l’égoisme, l’avidité, les violences et la cruauté, qui conduisirent aux terreurs des massacres de septembre.“ Ich glaube, das fühlt und weiß sich als „Liberalismus;“ gewiß ist, daß ein solcher zur Schau getragener Haß gegen die ganze Gesellschafts-Ordnung des Mittelalters sich vortrefflich mit der rücksichtsvollsten Behandlung der preußischen Geschichte verträgt. Z. B. in Betreff der Theilung Polens. (Kennst Du Montalembert’s Moines d’Occident? Oder vielmehr: weißt Du etwas Solideres und weniger Parteiisches, als dies Werk, aber mit der gleichen Absicht, die Wohlthaten, welche die europäische Gesellschaft den Klöstern verdankt, in’s Licht zu stellen?)
Dieser Winter thut mir wohl, wie ein Zwischen-Akt und Zurückschauen. Unglaublich! Ich habe in den letzten 15 Jahren eine ganze Litteratur auf die Beine gestellt und sie schließlich mit Vorreden und Zuthaten so weit „fertig gemacht“, daß ich sie als losgelöst von mir betrachte, — daß ich darüber lachen kann, wie ich im Grunde über alles Litteratur-Machen lache. Alles in Allem, so habe ich nur die miserabelsten Jahre meines Lebens dazu verwendet.
Treulich Dein alter Freund
N.
homo illitteratus