1887, Briefe 785–968
900. An Franz Overbeck in Dresden
Sils-Maria d. 30. Aug. 1887
Lieber Freund,
der Sommer ist dahin; wir waren sogar schon zwei Tage tüchtig eingeschneit, seitdem blieb es frisch und streng, doch so hell, wie sich’s meine Gesundheit nur wünschen kann. Die Kälte ist nicht mein Feind.
Ich habe oft an Dich gedacht, namentlich in Hinsicht auf Deinen Dresdener Aufenthalt, über den Du schwer genug hinweggekommen sein wirst. Jetzt denke ich Dich auf irgend einer Höhe, nachsommerlich gesinnt und hoffentlich wieder etwas von schmerzlichen Eindrücken hergestellt. Dein Name ist diesen Sommer oft genug hier oben von mir genannt worden: denn Basel war dies Mal die längste Zeit das dominirende Element in Sils, — nämlich durch eine Kopfzahl von 36 vertreten. Die gute Basler Welt zeigte sich gegen mich ganz unverändert, sehr herzlich und sehr respektvoll, ganz wie ich’s nur wünschen konnte. Die Namen La Roche Ryhiner Allioth usw. usw. schwirrten mir anfangs etwas vor dem Kopf; allmählich stellte sich mein Gedächtniß wieder ein; namentlich Sally Vischer von Ehedem hat sich prächtig die ganze Zeit über gegen mich bezeigt (mit ihren Kindern Manfred Eleonora Sigismund: wir haben über die schönen Namen gelacht!) Insgleichen die Schwester von Andreas Heusler. — Sodann ist Frl. von Salis hier, jetzt Doktorin der Geschichte (Abhandlung über die Mutter Heinrich des IV., Agnes von Poitou), welche mit ihrer Freundin, der Tochter des Prof. Kym zusammenwohnt. Endlich habe ich einen gelegentlichen Verkehr mit einem Prof. der Mathematik aus Erlangen, Noether gehabt, einem gescheuten Juden, und dem alten Reichsgerichtsrath Dr. Wiener aus Leipzig sammt Familie (vielleicht auch ein wenig Jude?) Meine englisch-russischen Damen haben mich von Maloja aus besucht; Miss Fynn hat bei einem dortigen Maskenball den ersten Rang im succès behauptet (sogar nach den Zeitungen), nämlich als russische Hofdame und russische Bäuerin. Mit der alten Mansouroff geht es aber nicht zum Besten. Eines Tags begrüßte mich ein alter Herr, grauhäuptig, mit seiner Frau: Prof. Claß („Philosoph“) aus Erlangen: seine ersten Worte waren „oh wie liebenswürdig haben Sie mich examinirt! das werde ich nie vergessen“ (— er promovirte seiner Zeit in Basel). Noch habe ich Dir nicht für die Tertullianstelle gedankt, ich habe von Deinen adnotat<iones> dazu den unbefangensten Gebrauch gemacht (nämlich in einer Abhandlung, die jetzt gedruckt wird): ein Stück der Stelle fand sich noch vor Eintreffen Deines Briefes in meinen Manuscripten, aber es war mir sehr werthvoll, sie in extenso zu bekommen. — Das Resultat vom Verkauf von „Jenseits“ ist sehr lehrreich; dies Mal ist Alles gethan, was ein geschickter und beliebter Buchhändler zu Gunsten eines Buchs thun kann; es sind ebenfalls gegen 60 Freiexemplare an Zeitschriften und Redaktionen vertheilt worden. Trotzdem jämmerlicher Abschluß der Rechnung, buchstäblich 106 Exemplare verkauft, Alles sonst remittirt. Kaum der fünfte Theil der Redaktionen hat Notiz von der Zusendung genommen; entschiedene Zeichen von Abneigung und principieller Ablehnung gegen Alles, was von mir kommt, fehlen nicht. Und nicht Eine in Betracht kommende Anzeige! Ich sage dies übrigens nicht mit Verdruß: denn ich verstehe es. Trotzdem schien es mir nothwendig, diesem „Jenseits“ von mir aus etwas zu Hülfe zu kommen: und so habe ich ein paar gute Wochen benutzt, um in Gestalt von 3 Abhandlungen das Problem des genannten Buchs noch einmal zu präcisiren. Damit glaube ich am Ende mit den Bemühungen zu sein, meine bisherige Litteratur „verständlich“ zu machen: und nunmehr wird für eine Reihe von Jahren nichts mehr gedruckt, — ich muß mich absolut auf mich zurückziehn und abwarten, bis ich die letzte Frucht von meinem Baume schütteln darf. Keine Erlebnisse; nichts von außen her; nichts Neues — das sind für lange jetzt meine einzigen Wünsche. — Den 20. Sept. will ich nach Venedig abreisen, um unsrem braven K<öselitz> wieder Muth zu machen; er hatte einen schweren Sommer.
Ms. Taine hat von Genf aus sehr liebenswürdig an mich geschrieben. (In Bezug auf ihn hat Rohde in diesem Frühjahr eine Rüpelei gegen mich begangen, nun, ich habe ihm gründlich darauf gedient, vielleicht zu gründlich. Hinterdrein that mir’s leid.) Man schreibt mir, daß Dr. Johannes Brahms sich auf das Lebhafteste für meine Schriften interessire — (Die Gesundheit bei strengster Diät besser als andere Jahre: in summa 6 ganz schlimme Anfallstage.) Ich halte an Sils fest. Ich habe keine Zeit mehr, zu probiren — und keinen Glauben daran mehr, zu finden.. Empfiehl mich auf das Beste Deiner lieben Frau und deren Anverwandten! (Die Nachricht von der Münchner Hochzeit kam in Gestalt einer schönen Karte zu mir) Treulich und dankbar Dein
N.