1887, Briefe 785–968
869. An Josef Viktor Widmann in Bern
Sils-Maria, Ober-Engadin, den 28. Juni 1887.
Hochgeehrter Herr Doktor,
vorigen Sommer haben Sie mich in keinen kleinen Schrecken versetzt: ich fand eines Tages hierselbst im Café die vortrefflichen Einwohner von Sils über ihren regelmäßigen Sommer-Gast stutzig und nachdenklich geworden, — sie hatten allesammt den Bund gelesen. „Wie! dieser anscheinend so harmlose Einsiedler und Höhlenbär ist also im Grunde etwas ganz Gefährliches?“ — Das las ich in Aller Augen. Ich selbst, nachdem auch ich den Bund gelesen, hatte freilich einen andren Eindruck: nämlich als ob ich über mich etwas sehr Liebenswürdiges und Wohlwollendes gelesen hätte. Ein paar Aeußerungen, die sich im Munde des Redacteurs eines demokratischen Blattes ganz von selbst verstanden, habe ich vielleicht überhört oder vergessen — in der Hauptsache muß ich Ihnen dankbar bezeugen, nach Jahresfrist nunmehr, daß Ihre Besprechung jedenfalls bei Weitem die ‚intelligenteste‘ Besprechung gewesen ist, die dieses unsympathische Buch bisher erfahren hat. Die Dichter sind nun einmal ‚divinatorische‘ Wesen: ein solches Räthselbuch wird zuletzt immer noch eher von einem Dichter errathen und ‚aufgeknackt‘, als von einem sogenannten Philosophen und ‚Fachmann‘.
Zum Danke dafür erlaube ich mir, Ihnen ein älteres Buch von mir zu überreichen, das eben jetzt neu erscheint, mehrfach verändert und verbessert (oder verbösert?) — in der Annahme, daß es Ihnen unbekannt geblieben ist. Vielleicht erscheint es Ihrem Geschmacke im Ganzen annehmbarer und erquicklicher, als jenes ‚Jenseitige‘ vom letzten Jahre. Doch mag es ebenfalls ‚ein gefährliches Buch‘ sein: wenigstens hat mir gerade das seiner Zeit Gottfried Keller in artigster Weise brieflich zu Gemüthe geführt.
Mit hochachtungsvollem Gruße
Ihr ergebenster
Dr. F. Nietzsche,
weiland Professor in Basel.