1887, Briefe 785–968
944. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Nizza,> Donnerstag den 2. <3.> Nov. 1887
Lieber Freund,
großes Vergnügen über den neuherausgegebenen, verbesserten und vermehrten Schlafrock! Nein, was Sie mich beschämen! Ich vermißte nämlich dies Kleidungsstück täglich, bei den winterlichen Stimmungen dieses Herbstes, welche mein Nord-Garten- und Parterre-Zimmer noch unterstreicht. Trotzdem wagte ich nicht, mir ihn kommen zu lassen, weil ich mich seines entarteten Zustandes erinnerte, der diesem Nizza noch mehr widerspricht als vielleicht Ihrem „philosophischeren“ Venedig; auch bin ich noch nicht bescheiden genug dazu, meinen Stolz im Zur-Schautragen meiner Lumpen zu suchen. Ecco!.. Und nun plötzlich so verschönert und achtbar geworden in seinem Zimmer zu sitzen — welche Überraschung!
Es scheint Alles verschworen, mir diesen Winter hier acceptabler zu machen als die letzten Winter waren: wo ich nicht nur gelegentlich, sondern gewohnheitsmäßig aus der Haut fuhr (irgendwohinein, z. B. in das verfluchte Bücher- und Litteraturmachen) Eben habe ich mir das Zimmer angesehn, welches ich diese nächsten 6 Monate bewohnen will: es liegt präcis über meinem bisherigen, ist gestern neu tapezirt worden, meinem schlechten Geschmack entsprechend, roth-braun-gestreift und -gesprenkelt, hat sich gegenüber ein tiefgelb angestrichenes Gebäude, fern genug, daß der Reflex erquicklich ist, und darüber, zur weiteren Erquickung, den halben Himmel (— er ist blau blau blau!). Unten ein schöner Garten, immergrün, auf den der Blick fällt, wenn ich am Tisch sitze. Der Boden mit Stroh bedeckt, darüber ein alter und über ihm ein neuer hübscher Teppich; ein großer runder Tisch, eine gutgepolsterte chaise longue, ein Bücherschrank, das Bett mit einer schwarz-blauen Decke verhüllt, die Thür insgleichen mit schweren braunen Vorhängen; noch ein paar Sachen mit grell rothem Tuche behängt (der Waschtisch und der Kleiderständer), kurz, ein artiges farbiges, im Ganzen warmes und dunkles Durcheinander. Ein Ofen kommt von Naumburg, von jener Art, die ich Ihnen beschrieben habe. — Bisher gieng es nicht gut; doch war das Wetter auch häßlich genug (4 Tage beinahe Regen) Was die hymnologische Litteratur betrifft, so langte zuerst ein Brief von Frau von Bülow an, ihren Gatten entschuldigend als „erdrückt durch Arbeit“, übrigens artig genug („mich zu Ihren Bewunderern zählend, natürlich so weit es meine geistigen Mittel mir erlauben“ usw) Sodann ein äußerst hübscher Brief Mottl’s, der eine Gelegenheit zur Aufführung nicht vorüberlassen will (— er findet das hohe a des Soprans in der Pianostelle sehr gewagt und wünscht der Composition mehr melodischen Reichthum — ah wie er Recht hat!)
Von Prof. Deussen kam aus Athen ein Lorbeer- und ein Feigenblatt an, gepflückt am 15. Oktober an der Stelle, wo ehedem die Akademie Plato’s gestanden hat. Insgleichen ein Gruß vom „Weiblein klein“. Auch mein Schwager hat artig genug an mich geschrieben; wir strengen uns Beide an, die etwas extreme Situation zu mildern (— er schreibt über „Jenseits“, das er sich hat kommen lassen: ich hatte es nicht geschickt, aus Gründen)
Von Naumann noch Nichts. Fast zweifle ich, ob er eigentlich weiß, daß ich in Nizza bin. — Welchen Zeitungen und Zeitschriften soll ich Exemplare schicken? (Bei dem wissenschaftlicheren und exclusiveren Geschmack dieser Abhandlungen so wenigen als möglich! Dagegen den Fach-Zeitschriften in Deutschland, Frankreich und England.)
Treulich und dankbar
Ihr Freund
Nietzsche.
(Was bin ich für die Herstellung des Kleidungsstückes dem Schneider schuldig?)