1887, Briefe 785–968
846. An Erwin Rohde in Heidelberg
Chur (Graubünden) Rosenhügel den 18. Mai 1887
Lieber Freund,
diesen Winter hat mir in Nizza ein junger Gelehrter, der Dir bekannt ist, seinen Besuch gemacht, ein Dr. Heinrich Adams. Er gefiel mir nicht zum Besten, aber in Hinsicht darauf, daß er von Dir mit großer Anhänglichkeit und Verehrung redete, ist er von mir so gut als möglich aufgenommen worden. Seinem ungestümen und wenig begründeten Verlangen, sich der Philosophie zu widmen, bin ich, wie sich von selbst versteht, mit allem möglichen Mißtrauen entgegengetreten; so viel scheint mir wenigstens erreicht, daß er jetzt guten Willen hat, sich ernstlich auf das Studium der Geschichte der antiken Philosophie zu werfen: vielleicht mit der Aussicht auf eine spätere Lehrthätigkeit an einer Universität.
Nun schreibt er heute von Zürich (Seilergraben 29, 2) und erbittet sich von mir eine Auskunft, die er billigerweise sich von Dir direkt holen sollte: nämlich ob Du für ihn nicht eine kleine Stellung an einer Bibliothek ausfindig machen könntest. Ich würde großen Werth darauf legen, daß er etwas unter Deinen Augen und unter Deiner Kritik und Disciplin lebte, denn es ist ein unsicherer Mensch, in dem Selbstüberhebung und Selbstverachtung in bedenklicher Weise abwechseln: so daß es nicht ohne Gefahr wäre, wenn er sich selbst überlassen bliebe.
Ich selbst — denn Du wirst fragen, warum ich mir nicht selber diese Last auflade? — ich mache mir aus den „jungen Leuten“ nichts und habe außerdem Erfahrung genug, um zu zweifeln, ob ich ihnen wirklich zu Nutze bin. Meine Erholung sind die alten Männer, solche wie J<acob> Burckhardt oder H<ippolyte> Taine: — und selbst mein Freund Rohde ist mir lange nicht alt genug… Aber „einst wird kommen der Tag“ usw.
Mit einem herzlichen Gruße
Dein
Nietzsche