1887, Briefe 785–968
798. An Franz Overbeck in Basel
Nice, 12. Fevr. 87
Lieber Freund,
es hilft nichts, ich werde Dich bitten müssen, mir dies Mal noch vor dem Quartals-Termine Geld zu schicken — 200 frs. etwa, und unter meiner ehemaligen Adresse pension de Genève pet. rue St. Etienne: denn zu dem neuen Hause, in dem ich wohne, fehlt es mir noch an Zutrauen. Der Winter ist streng, auch hier; doch bringt er eine große Menge vollkommen heller Tage mit sich — und ich habe noch kein Mal geheizt. Man sagt mir, daß mein Aussehn besser sei als den letzten Winter, auch daß ich beständig heiter sei: aber das hat man mir mein ganzes Leben gesagt. Die Menschen sind hier vielleicht noch oberflächlicher als anderswo: es versteht sich also, daß auch ich meine „Oberfläche“ habe. — Vielleicht hast Du selbst schon von Herrn Köselitz gehört, daß er inzwischen nach Venedig zurückgekehrt ist. Er preist die Frische und Klarheit der dortigen Luft und fügt hinzu, in seinem letzten Briefe „aria limpida, bei der ich gewiß ein paar Sachen gemacht haben würde, wenn ich im Geschirr geblieben wäre. Aber ich war halbtodt. Mir graut, die Feder zum Niederschreiben in die Hand zu nehmen.“
So habe ich meine Sorge, zumal ich gar nicht mehr absehe, was jetzt noch etwa zu thun ist, um den allgemeinen Widerwillen und Widerspruch, der sich gegen seine Musik geltend macht, zu heben. Levi hat eine Aufführung des Septetts veranstaltet, aber „er habe ein Gesicht dazu geschnitten wie Freund in Zürich“ — „und gewiß hat er mich halb bedauert, halb ausgelacht.“
Es freut mich sehr, daß Du an der Oper solches Wohlgefallen gehabt hast; aber ich muß mir immer noch den Musiker suchen, dem sie gefällt. Köselitz hat die gebildetsten wohlwollendsten und anerkanntesten Musiker gegen sich. Trotzdem: gerade dies giebt mir Zutrauen. Es stünde bedenklicher, wenn es anders stünde… Gesetzt, daß er selbst weniger daran litte, so würde ich ihm beinahe dazu gratuliren: denn es ist das eigentliche Abzeichen des wahrhaft Neuen und Originalen (— daß man die Gebildeten gegen sich hat). Beiläufig: mir ist diese letzten Monate (wo ich mehr als mir lieb war mich genöthigt sah, meine frühere Litteratur zu berücksichtigen) zum Bewußtsein gekommen, daß in fünfzehn Jahren auch nicht eine einzige werthvolle sachlich-tiefe, interessante und interessirte Recension über eins meiner Bücher geschrieben worden ist — und daß ich’s nicht vermißt habe (was das Beste daran ist!) Dagegen will ich keinen Augenblick leugnen, daß ein andres Faktum mir schrecklich weh thut und mir auch beständig gegenwärtig ist: daß in eben diesen fünfzehn Jahren auch nicht Ein Mensch mich „entdeckt“ hat, mich nöthig gehabt hat, mich geliebt hat, und daß ich diese lange erbärmliche schmerzenüberreiche Zeit durchlebt habe, ohne durch eine ächte Liebe getröstet worden zu sein. Mein ganzer „Zarathustra“ ist aus dieser Entbehrung gewachsen — wie unverständlich muß er sein! Welche absurden Erinnerungen habe ich in Hinsicht auf die Wirkung, die er gemacht hat! Er hat erbittert, wenigstens eine gewisse Art von Menschen: dies ist bisher seine einzige tiefere Wirkung gewesen. — Indessen — indessen — ich bin „intelligent“ genug, um auch dies als gutes Zeichen zu nehmen. Zuletzt habe ich keine Zeit, mich sehr um die „Meinung über mich“ zu bekümmern: es giebt eine erschreckliche Menge von Problemen, die auf mich drücken. Und was für Probleme! Wenn ich nur den Muth hätte, Alles zu denken, was ich weiß.. (Dies ist nicht sehr deutlich ausgedrückt, lieber Freund: es ist gut, daß ich in Frankreich lebe, das unwillkürlich zur Deutlichkeit erzieht) Empfiehl mich Deiner lieben Frau und gieb mir bald Nachricht über Deinen Winter, ich meine Deine Gesundheit bei einem solchen Winter.
Dein F. N.
Habe ich Dir von H. Taine geschrieben? Und daß er mich „infiniment suggestif“ findet? Und von Dostoiewsky?