1887, Briefe 785–968
932. An Carl Riedel in Leipzig
<Venedig, um den 20. Oktober 1887>
Hochverehrter Herr Professor,
es scheint mir so lange her, daß ich nicht in Leipzig war: erst nächstes Jahr wird sich dazu wieder die Gelegenheit finden, und da hoffe ich auch Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin wieder die Hand drücken zu können! Heute kommt nur ein gedrucktes und gestochenes Erinnerungszeichen, das darum bittet, freundlich aufgenommen zu werden: jener „Hymnus auf das Leben“, den Sie 1882 schon gesehn haben, damals noch in einem Rohzustande, und von dem ich wünsche, daß er inzwischen reif, fertig, vielleicht aufführbar geworden ist. (Ihre Winke und Ausstellungen von damals sind auf das dankbarste benutzt worden). Mein Name als der des unabhängigsten und radikalsten Philosophen, den es jetzt giebt, ist bekannt genug; eine Art Glaubensbekenntniß in Tönen seitens eines solchen Philosophen würde vielfache Neugierde und Theilnahme erregen. Zwar ist die eigentliche Bestimmung dieses Hymnus eine andre — er soll, irgend wann einmal, wenn „ich nicht mehr bin“, zum Gedächtniß an mich gesungen werden: womit aber der Wunsch durchaus nicht ausgeschlossen sein soll, daß er noch bei meinen Lebzeiten bekannt wird. Finden Sie selber, hochverehrter Herr Professor, vielleicht ein Mittel, einen Anlaß dazu?.. In Leipzig gerade ist mir alle Welt gewogen, ein guter Theil der Universitätscollegen steht mir persönlich nahe; eine Leipziger Aufführung dieses Hymnus gehörte zu meinen besonderen Wünschen.
Mit dem Ausdruck, der alten und unveränderlichen Gesinnung
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Friedrich Nietzsche
(Adresse: Nizza (France) pension de Genève