1887, Briefe 785–968
785. An Emily Fynn in St. Moritz
Nizza (France) pension de Genève 1. Januar 1887.
Hochverehrte Frau,
Ihr liebenswürdiges Erinnerungszeichen, für das ich mich von Herzen bedanke, ist über Naumburg nach Nizza gewandert — wer weiß, durch wie viele Schneelandschaften und Postverzögerungen hindurch! Sie würden jeden Falls dieser Tage von mir Nachricht bekommen haben, und schon früher, wenn nicht in der letzten Zeit sich ein wunderlicher Umstand allem Briefschreiben bei mir entgegengestellt hätte: blaue Finger! Ich habe bisher hier ein Nordzimmer bewohnt, ohne Ofen, gegen einen kalten Garten gelegen — es war eine wirkliche Strapaze, zu der ich aber gute Miene gemacht habe.
Die Kälte war seit dem 14. November gründlich zu spüren, ein beständiges schönes Januar-Wetter, fast ohne Unterbrechung Sonnenschein und reiner Himmel, ganz so, wie ich’s liebe (und nöthig habe!) Es ist mir öfter der Gedanke gekommen, daß eigentlich unser beiderseitiger Geschmack und Bedürfniß auch über Nizza und nicht nur über den Engadin übereinstimmen müßte: vorgesehn, daß man nicht zu früh hierher kommt (wie ich dies Mal gethan habe, Mitte Oktober) und nicht zu spät davongeht. Die Ähnlichkeit der Luft in Hinsicht auf Energie, Trockenheit, anregende Kraft, muß bei Ihnen oben und bei mir hier unten jetzt zum Verwechseln sein. Übrigens bisher kein Stäubchen Schnee; dafür eine Sturmfluth, die zwei Tage lang über die Promenade des Anglais hinweg gieng. Übermorgen ziehe ich in ein andres Quartier und bekomme ein Sonnen-Zimmer. Glücklicherweise nährt man mich ordentlich; ich habe für Mittag wieder meine ausschließliche Milch- und Ei-Diät festgehalten, aber des Abends nehme ich an einer respektablen table d’hôte Theil, an der fast nur Engländer sind. Es war davon die Rede, daß eine Engländerin Ihres Namens, Miss Fynn, von San Remo in mein Hôtel übersiedeln wolle, und man hatte ihr den mir benachbarten Salon zugedacht: dies wäre ein artiges Quidproquo gewesen! Die Gesellschaft hier in Nizza soll diesen Winter besser sein als andre Jahre: so erzählt man mir, denn ich lebe einsiedlerischer noch als sonst. Die Villen stark occupirt, mehr als die Hôtels; viele Equipagen, viel Dienerschaft sichtbar. Der König v. Würt<t>emberg, der russische Thronfolger, auch der regierende Herzog von Sachsen-Gotha sind hier; man hat längere Zeit die russische Kaiserin erwartet (für die Villa Van-Derwies) „Die letzte Saison vor dem Kriege“ — so sagt alle Welt. Ich denke, daß das nächste Jahr auch einiges Gute bringen wird, zum Beispiel für uns ein friedliches Wiedersehn da oben in der Höhe, deren heilkräftige und bewiesene Wirkung Ihrer verehrten Freundin und Ihnen selbst schwer zu ersetzen sein wird. Mit Sils bin ich immer noch einverstanden, nicht mit dem Zimmer daselbst: oder vielmehr, meine Augen verbieten mir es fürderhin. Ich muß ein großes hohes Arbeitszimmer haben, mit den fünf nothwendigen Eigenschaften. Über den Zwischenakt noch nichts entschieden: ich fürchte die Zwischenakte. Vielleicht Venedig, wohin mein armer, durch lauter Demüthigungen stark niedergebeugter Musiker zurückgekehrt ist, der vielleicht meines Zuspruchs bedarf (oder vielmehr meines Glaubens an seine Musik: alle Künstler haben „Gläubige“ nöthig)
Möge uns Allen ein gutes Jahr beschieden sein, mit Geduld und Trost für die Leidenden, mit Tapferkeit und Sonnenschein für Alle! Bitte, sagen Sie Fräulein von Mansouroff meinen ergebensten Gruß und Glückwunsch; insgleichen Frau Bichler; und wenn Sie schreiben sagen Sie auch Ihrer Fräulein Tochter einen herzlichen Gruß.
Ihnen in Verehrung zugethan
Dr Nietzsche
Oh! ich vergaß mich für Ihren ersten Brief zu bedanken, der mir, inmitten von unangenehmen Menschen, so wohl gethan hat! —