1887, Briefe 785–968
847. An Franz Overbeck in Basel
Chur, Rosenhügel 13. Mai 1887.
Lieber Freund,
bis jetzt giebt es nichts Gutes zu vermelden, meine Versuche unterwegs sind allesammt mißrathen; ich habe mich hier, einen Sprung weit von Chur, im Hause eines Lehrers festgesetzt und warte die Zeit ab, wo man ins Engadin abreisen kann, ohne daselbst zu erfrieren. Jedenfalls warte ich den 10. Juni ab. Trübes feuchtes Wetter, gelegentlich sogar Wintertage; eine entsprechende Trübsal bei mir, Muthlosigkeit, Fragezeichen ohne Antworten, keine „Wünsche“ selbst, nirgends etwas Erfreuliches am Horizonte, weder Mensch, noch Buch, noch Musik, alle animalischen Funktionen gedrückt, die Augen beständig schmerzhaft, das Spazierengehn eine Last, insofern ich eigentlich zu müde dazu bin, aber nichts anderes „zu thun“ habe. Ebenso stand es voriges Jahr in Naumburg, ebenso die früheren Jahre in Venedig: es scheint, daß der Frühling mein Feind ist? Leider auch der Herbst; und wahrscheinlich würde es auch der Sommer sein, wenn ich ihn mir nicht zu einem räsonabeln Winter umgeschaffen hätte (denn der Durchschnittsgrad des Engadiner Sommers, 10 Grad Celsius, entspricht dem Januar in Nizza)
Unser Zusammensein in Zürich war das gute Erlebniß der ganzen letzten Monate: ich sage Dir nochmals meinen besten Dank dafür. Gestern habe ich an Rohde in Angelegenheiten des Dr. Adams geschrieben: letzterer wünscht irgendwo eine kleine Stellung und Beschäftigung an einer Bibliothek. Gesetzt, daß Du selbst etwas dergleichen weißt, so habe die Güte, es mir gelegentlich mitzutheilen. — Natürlich hatte der genannte „junge Mann“, als ich ihn am Tage vor meiner Abreise gerade noch erwischte, ganz und gar kein Geld (ich sagte Dir, daß er mir etwas schuldig ist)
Die „jungen Leute“ sind mir zur Last, in Sonderheit, wenn sie als Verehrer meiner Litteratur zu mir kommen. Denn es liegt auf der Hand, daß das keine Litteratur für „junge Leute“ ist. — Beiläufig: der Druck bei Fritzsch stockt wieder, Gründe nicht klar; aber ich bin zum Mißtrauen jetzt leider zu gut präparirt. —
Ich lege eine „Recension“ meines letzten Buches bei, die, ganz ausnahmsweise, dies Mal in meine Hände gelangt ist. (Meine Verleger haben im Allgemeinen die Weisung, mich mit dergleichen zu verschonen) „Nord und Süd“: ist das nicht das Blatt des Paul Lindau? — Was mir immer an deutschen Bücher-Anzeigen auffällt, ist die Stumpfheit des Blicks für das eigentlich Charakteristische und „In die Augen-Springende“ eines Buchs. Dieser Recensent z. B. ist ersichtlich beim Lesen in Zweifel darüber gewesen, ob es sich nicht am Ende um eine „witzige Persiflage“ handelt: während Taine, wie es sich von selbst versteht, zu allererst an meinem Buche das „Tief-Leidenschaftliche“ empfand. —
Ich lege auch noch ein andres Aktenstück bei: die „Proklamation“ meines Schwagers in Sachen Paraguays. Es scheint in der That, daß meine Angehörigen sehr stolz und glücklich über ihre nunmehr vollendete Besitzergreifung sind: das Land, groß wie ein kleines Fürstenthum (12 Quadrat-Meilen) enthält herrlichen Hochwald, und alle Arten edlen Nutzholzes: man ist auf Holzhandel mit dem holzarmen Argentinien angewiesen und hat dazu eine Wasserstraße. Bis jetzt ist Alles sehr gut gegangen, von Seiten der dortigen Regierung ist der Dr. Förster in aller Weise ausgezeichnet worden, und meine Schwester hat viel zu thun gehabt, weil ihr Haus eine Art Rendez-vous der Sozietät von Parag<uay> geworden war, wo man spanisch, englisch, deutsch, französisch redete und selten unter 14 Personen zu Tische saß. Die neueste Acquisition ist ein deutscher Bäcker und ein deutscher Fleischer, insgleichen ein sehr zu schätzender deutscher Arzt.
Zuletzt sende ich Dir auch noch den „Bleibtreu“ zurück, dem ich nicht einen Augenblick treu bleiben möchte: ich kann durchaus nicht ersehen, daß seine Prätensionen auf wirkliche Qualitäten gegründet sind: so sehr ich auch gewohnt bin, bei „jungen Leuten“ mich nicht ohne Weiteres durch die Prätension als solche schon abschrecken zu lassen. Für einen Menschen, der für nichts als für „Litteratur“ Sinn und Auge hat, schreibt dieser Bl<eibtreu> wie ein Schwein inmitten des allergewöhnlichsten Zeitungs-Düngers, vollkommen stumpf gegen alle nuances der Worte; sein Zorn überredet nicht, sein Witz geht nicht über das hinaus, was man „Geschnotter“ nennt — und gar sein Hintergrund von Philosophie! Selbst keine Aesthetik! Byron und Skott im jetzigen Deutschland! Damit verträglich die Verehrung Zola’s! Und welche psychologische Armseligkeit, zb. in dem kurzen Abweise, mit dem er das letzte Werk Dostojewsky’s bedenkt! (Gerade daß die höchste psychologische Mikroscopie und Feinsichtigkeit noch ganz und gar nichts zum Werthe eines Menschen hinzuthut, das ist ja eben das Problem D<ostojewsky>’s, das ihn am meisten interessirt: wahrscheinlich weil er es in russischen Verhältnissen zu oft aus der Nähe erlebt hat! (Ich empfehle dafür übrigens das zuletzt ins Französische übersetzte kleine Werk D<ostojewsk>)’s „l’esprit souterrain“ dessen zweiter Theil jenes sehr thatsächliche Paradoxon auf eine beinahe fürchterliche Weise illustrirt). —
Adieu, mein lieber Freund! Und die herzlichsten Grüße an Deine Frau!
Treulich
Dein Nietzsche.
NB. Ich mache eine kleine Kur mit Karlsbader Salz frühmorgens (— wovor hat man sich da diätetisch in Acht zu nehmen? Ich denke vor Saurem, vor Butter, Obst usw?)