1887, Briefe 785–968
851. An Heinrich Köselitz in Venedig
Chur, Schweiz, Rosenhügel 20. Mai 1887.
Lieber Freund,
inzwischen gieng es nicht besser: und fast bilde ich mir ein, daß der Frühling, meine verhängnißvolle Jahreszeit, mir überall gleich zusetzt — und daß ceteris paribus Venedig bei weitem das Wählenswertheste auch für diese Zeit bleibt. Ein paar gute Minuten helfen mir über lange böse Strecken weg — selbst weniger noch, ein kleiner Ruck des Herzens beim Anhören einer Musik, die ich liebe: aber es gab bisher keinen solchen Ruck! Es gab keine Musik, keinen St. Markusplatz, keine Gondel — nichts als die häßlichen Gebirgsbauern, deren Bewegungen und Laute mir wehe thun. Doch hat Chur schöne Wälder um sich: aber ich wurde auch in ihnen nicht „ohnig der Melancholei“, von der ich besessen bin. Dazu fehlten stupide Zufälle nicht, die mich aus meinem „Willen zur Sorglosigkeit“ immer wieder in die Sorge hineintrieben. Die Behauptung Plato’s, daß man mit Massage sogar Gewissensbisse heilen könne, verdiente erprobt zu werden: — doch bin ich bisher auch mit ihrer Hülfe nicht über den Gewissensbiß hinweggekommen, dies Mal Venedig und meinen Freund Köselitz in Stich gelassen zu haben.
Was mag denn wieder mit Fritzsch vorgegangen sein? Der allerletzte (modifizirte) Correkturbogen des 5. Buchs ist bis heute nicht in meinen Händen: der vorletzte, mit Ihrer Correctur, ist am 9. Mai von Chur nach Leipzig abgereist. Seitdem — silentium. —
Hoffentlich ist Nichts verloren gegangen? —
Haben wir Geduld, es kommt eigentlich Nichts darauf an, wann meine Schriften „fertig“ werden. Eben habe ich Rohden einen allerliebst-groben Brief geschrieben, wegen einer respectwidrigen Aeußerung über Taine. Insgleichen einen Geldbrief Paraguay betreffend: ich hüte mich weislich, mich irgendwie in diese Antisemiten-Unternehmung einzulassen. Übrigens ist ein grandioses Stück Erde von mehr als 12 □ Meilen (größer als Lippe) im Besitz meiner Angehörigen als propriedad del Sg. Don Bernardo Förster — unter dem Namen „Neu-Germanien“. Es ist möglich, daß eine der größten Eisenbahnen der Welt, welche unten von der Mündung des La-Plata nach dem Panamakanal geht, entweder durch die Colonie hindurch oder nahe vorbei führt (die Bahnlinie durch Bolivia und Peru). Schon bei dem Bahnbau läßt sich ein Vermögen erwerben, denn die Colonie ist mit prachtvollem Hochwald bedeckt und hat 2 Wasserstraßen nach dem Hauptstrom. Der General Osborne, früher Gesandter der Verein<igten> St<aaten> in Argentinien, verhandelt jetzt mit der Regierung über diese Bahn, die sein „Ideal“ und Lebenszweck ist (er hat meiner Schwester gesagt, beim Abschiede, „sein schönster Gedanke sei, wenn er eines Tages mit dem Zuge käme to see the little Queen of Nueva Germania“)
Die Bibliothek in Chur, ca. 20 000 Bände, giebt mir dies und jenes, das mich belehrt. Zum ersten Male sah ich das vielberühmte Buch von Buckle „Geschichte der Civilisation in England“ — und sonderbar! es ergab sich, daß B<uckle> einer meiner stärksten Antagonisten ist. Übrigens ist es kaum glaublich, wie sehr E. Dühring sich von den plumpen Werthurtheilen dieses Demokraten in historischen Dingen abhängig gemacht hat: ganz derselbe Fall, wie mit Carey, von dem er alle wesentlichen Oeconomica sich angeeignet hat. In philosophicis steht es noch schlimmer: es ist wirklich einer der unoriginellsten Köpfe, der aber mit seiner Agitatoren-Dreistigkeit gerade über diesen Thatbestand hinweg zu täuschen versteht. Ich hätte ihn mit dem gleichen Rechte einen Amalgamisten nennen können, wie ich E. v. Hartmann genannt habe.
Ob ich diesen Sommer in Sils-Maria sein werde, ist ungewiß; vielleicht Celerina, noch vielleichter die Lenzer Haide (wo es tiefen Wald giebt) Aber erst muß die „liebe Seele“ wieder ruhig werden und die dumme Spannung verlernen, in der ich mich so lange befinde, als die Redaktion meiner früheren Litteratur dauert: sie hat mir allzu sehr deutlich gemacht, daß ich ohne Halt bin und leicht durch einen Sturm über Nacht fortgeblasen werden kann. Verklettert, sehr hoch, aber in der beständigen Nähe der Gefahr — und ohne eine Antwort auf die Frage „wohin?“ — —
Oh was liebe ich die Musik meines Freundes Peter Gast!
Treulich und von Herzen Ihr
Nietzsche.