1887, Briefe 785–968
899. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria, den 30. August 1887.
Lieber Freund,
inzwischen, denke ich, wird es auch in Venedig kühler geworden sein. Wir waren sogar schon eingeschneit und gründlichst: schönster Januar für zwei Tage, — seitdem wieder menschlicher, doch frisch, selbst herb. Die dumme Gesundheit wackelt wieder, der böseste Anfall des Sommers kaum überstanden. Trotzdem eine Art Zufriedenheit und Fortschritt, in jeder Hinsicht; vor allem ein guter Wille, nichts Neues mehr zu erleben, dem „Außen“ etwas strenger aus dem Weg zu gehn, und das zu thun, wozu man da ist. Sils wird festgehalten, ich wünschte, ich hätte schon eine eben solche Winterhöhle, wie diese Sommerhöhle. Für diesen Herbst, lieber Freund, bin ich immer noch Willens, es mit Venedig zu versuchen: doch muß ich erst von Ihnen noch eine ernstgemeinte Erlaubniß dazu erhalten. Gesetzt nämlich, daß Sie jetzt ein tiefes Für-sich-sein lieber hätten und hygienischer in irgend einem Sinne fänden, so bedarf es des kleinsten Winkes, lieber alter Freund: ich würde mich selbst nicht schonen, wenn ich Sie nicht in solchen Hauptsachen schonte. Im andren Falle habe ich ein paar Bitten auszusprechen; aber, wie gesagt, einstweilen schwebt noch Alles.
Was das Titelblatt angeht: so bin ich voller Verdruß. Ich habe es zuletzt Fritzsch überlassen, Alles nach seinem Gutdünken resp. der alten Geschäfts-Routine zu arrangiren; nur will ich nichts mehr davon hören. Er will auf die Preisanzeige nicht Verzicht leisten, er mag das Gedicht auf dem Titelblatt nicht etc. Zuletzt hat er mir ein Monstrum von Stichprobe geschickt, das ich meinerseits mit Ingrimm abgelehnt habe. Habeat sibi! — Daß Ihr Name nicht auf das Titelblatt soll, hat mich, aufrichtig, perplex gemacht (— ich weiß nicht, was in mir remonstrirte, ich glaube beinahe vanité… ) Zuletzt habe ich mich überredet, daß diese Verzichtleistung Ihrerseits in der That zu einem guten Ausgange führen kann, daß sie klug ist, kurz daß wir Beide etwas auf die Länge hin spekuliren müssen und gegen die Gesichtspunkte des Augenblicks gleichgültig sein dürfen. So soll ich denn also geschmückt mit was für schönen fremden Federn vor die Herrn Musiker treten!! Habeat sibi! — Ich habe noch eine allerletzte Revision des ganzen Stichs gemacht, hinsichtlich der von Ihnen eingetragnen Correcturen: und wirklich fand ich noch zwei ganz grobe Fehler. (Zwei Takte verwechselt)
Bei Naumann ist hoffentlich nichts Störendes vorgefallen: wir sind noch nicht weiter seit dem Bogen 3. Doch habe ich auf der leeren Zwischenseite am Schlusse der ersten Abhandlung noch eine Anmerkung (für Gelehrte) eingerückt.
Hier reist man ab, die Hôtels leeren sich. Der Vogel sitzt einsam. Doch soll diese Tage mein alter Freund Dr. Deussen von der Berliner Universität hier eintreffen, mit Frau (auf der Reise nach Griechenland: hübsch! über Sils nach Griechenland!) er hat mir eben ein prachtvolles Werk geschickt, „die Sûtras des Vedanta“, die erste europäische Übersetzung eines enorm scharfsinnigen und raffinirten Commentars der Vedanta-Philosophie (Sanscrit)
Keine Musik! Kein Ton guter Musik!…
Treulich und dankbar
Ihr N.