1887, Briefe 785–968
870. An Franz Overbeck in Basel
Sils-Maria den 30. Juni 1887.
Lieber Freund,
Deine Nachricht vom Tode Steins (die mir inzwischen auch von Seiten des Vaters zugegangen ist) hat mich auf das Allerschmerzlichste berührt: oder vielmehr, ich bin immer noch ganz außer mir darüber. Ich hatte ihn so lieb, er gehörte zu den wenigen Menschen, deren Dasein an sich mir Freude machte. Auch zweifelte ich nicht daran, daß er mir gleichsam für später aufgespart sei: denn solchen Menschen, die, reich und tief, nothwendiger Weise eine langsame Entwicklung haben, muß man viel Zeit geben. Und man hat sie ihm nicht gegeben! Warum bin ich nicht an seiner Stelle abgerufen worden — es hätte mehr Sinn gehabt. Aber Alles ist so unsinnig: und diese noble Creatur, die schönste Species Mensch, deren ich in Folge meiner Wagnerischen Beziehungen überhaupt ansichtig geworden bin, ist nicht mehr! —
Für Deinen Brief meinen angelegentlichen Dank, lieber Freund, um so mehr, als er einem sehr unerquicklichen Zustande zum Trotz entstanden ist. Ich nehme an, daß ungefähr zu gleicher Zeit auch meine „Morgenröthe“ in Deine Hände gelangt ist, deren nachdenkliche, aber vielleicht nicht unbedenkliche Vorrede sich Deiner Aufmerksamkeit empfehlen mag. Zuletzt gehört das Alles einer Generation zu, die wir Beide wahrscheinlich nicht mehr erleben werden: dieselbe, in welcher die großen Probleme, an denen ich leide, so gewiß ich auch durch sie und um ihretwillen noch lebe, leibhaft werden müssen und in That und Wille übergehn müssen. In kurzer Zeit darf ich Dir auch die neue „fröhliche Wissenschaft“ schicken. —
Sobald ich mich etwas erholt habe, sollen ein paar Zeilen an Frau Rothpletz nach München abgeschickt werden. Meine Gesundheit kommt nur langsam von der Stelle: und in der Hauptsache stockt sie: es giebt irgend eine tiefe physiologische Hemmung, deren Ursache und Sitz ich nicht nachzuweisen vermag, Dank welcher die Durchschnittsempfindung („das Gemeingefühl“, wie die Physiologen sagen) beständig unter dem Nullpunkte ist; — ohne alle Übertreibung, ich habe jetzt ein Jahr lang nicht Einen Tag gehabt, wo ich an Geist und Leib frisch und wohlgemuth gewesen wäre. Diese beständige Depression (Tags und auch Nachts) ist schlimmer als jene heftigen und extrem schmerzhaften Crisen, denen ich so oft unterworfen bin. — Carlsbad hat nichts genützt; überhaupt ist der Magen bei mir immer nur ganz indirekt betheiligt und niemals die causa prima.
Zuletzt eine Bitte an Deine liebe Frau. Seit drei Monaten fehlt mir ein Thee, der mir zuträglich ist. Der einzige Thee, zu dem ich Vertrauen habe und der in meinem Falle bewiesen ist, ist der englische Thee Horniman, den man auch in Basel haben kann (— ich kaufte ihn seiner Zeit am Markte) Es giebt Blechbüchsen von ein Kilo Inhalt, zum Preise von 12 frs: darf ich um die Zusendung einer solchen Büchse ersuchen? Die Verpackung übernimmt unzweifelhaft das Geschäft selbst. — Dieser Thee ist nichts besonders Feines, aber er bleibt sich absolut gleich (seit 40 Jahren) und ist folglich nicht, wie alle Thees, die man sonst kauft, eine Sache des Versuchs.
Mit den herzlichsten Wünschen für Deine Besserung bin und bleibe ich treulich
Dein Nietzsche