1887, Briefe 785–968
940. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza 27. Okt. 1887. (blaue Finger, Pardon!)
Lieber Freund,
eben langte Ihr Brief an; ich las Montaigne, um mich aus einer grillig-düsteren und gereizten Stimmung zu ziehen — Ihr Brief half mir gründlicher noch davon. Seit gestern Abend habe ich eine Fischgräte im Halse, die Nacht war peinlich; trotz wiederholten Versuchen des Erbrechens hält sie fest. Sonderbar, ich empfinde eine Abundanz von Symbolik und Sinn in dieser physiologischen Niederträchtigkeit. —
Zu alledem ist es kalt, januarlich; mein Nordzimmer läßt mich nicht mit mir spaßen — und auch nicht mit sich! — Overbeck meldet eben seinerseits Rheumatismus (überdies Neues über Spitteler, seinen alten Schüler), tiefe Versenkung in den Wust der Scholastik (über welche er diesen Winter zum ersten Male liest), auch daß man R<ichard> W<agner>’s Symphonie in Basel gemacht hat. Wir wollen ihm (nach Ihrem Vorschlag) den Hymnus jetzt schicken: als welcher zu aller Art Tapferkeit auffordert. Beiläufig: die Schlußwendung „wohlan! noch hast du deine Pein!…“ ist das Stärkste von Hybris in griechischem Sinne, von lästerlicher Herausforderung des Schicksals durch einen Exceß von Muth und Übermuth: — mir läuft immer noch jedes Mal, wenn ich die Stelle sehe (und höre), ein kleiner Schauder über den Leib. Man sagt, daß für solche „Musik“ die Erinnyen Ohren haben. —
Ais erleichtert mich, ich kann Ihnen nicht helfen, es macht die Brücke zu der „süßen“ Entschlossenheit der letzten Phrasirung. Ich würde a aushalten, wenn es den Anfang einer langen leidenschaftlichen, tragischen, auf- und abschwellenden Cadenz (auf fis-moll), etwa mit einem Violinen-Unisono, machte; an sich allein steht es da, dürr, schmerzhaft, hoffnungslos. Auch bewegt sich in diesen Takten die Melodie in lauter kleinen Sekunden: diese einzige große h—a klingt wie ein Widerspruch. — Sie sehen, ich komme über den moralischen Querstand dieses a schlecht hinweg. —
Die Partitur hat mir übrigens großes Vergnügen gemacht; und es scheint mir, daß Fritzsch sich besser aus der Sache herausgezogen hat als wir ihm zugetraut haben. Was für gutes Papier hat er genommen! Im Grunde ist es die „eleganteste“ Partitur, die ich bisjetzt gesehn habe; und daß F<ritzsch> wirklich die Stimmen dazu hat herstellen lassen (ohne mir vorher ein Wort davon zu sagen), freut mich: es verräth seinen Glauben an die Aufführbarkeit des Hymnus. Oh, alter lieber Freund, was haben Sie sich damit um mich „verdient gemacht“! Diese kleine Zugehörigkeit zur Musik und beinahe zu den Musikern, für welche dieser H<ymnus> Zeugniß ablegt, ist in Hinsicht auf ein einstmaliges Verständniß jenes psychologischen Problems, das ich bin, ein unschätzbarer Punkt; und schon jetzt wird es nachdenken machen. Auch hat der H<ymnus> etwas von Leidenschaft und Ernst an sich und präzisirt wenigstens einen Hauptaffekt unter den Affekten, aus denen meine Philosophie gewachsen ist. Zu allerletzt: er ist etwas für Deutsche, ein Brückchen, auf dem vielleicht sogar diese schwerfällige Rasse dazu gelangen kann, sich für eine ihrer seltsamsten Mißgeburten zu interessiren. —
Nizza, aufgerüttelt durch sein Erdbeben, schickt sich diesen Winter an, alle seine Verführungskünste anzuwenden. Reinlicher war es nie; die Häuser schöner angestrichen; die Küche in den Hôtels besser. Das italiänische Theater (Sonzogno, als Impresario, bringt selber den Winter hier zu) verspricht zuerst, wie Bülow i pescatori di perle (26. Nov.); darauf Carmen; darauf Amleto (von wem?), darauf Lakmé (von Delibes) — lauter Feinschmeckerei. Eben haben wir einen glänzenden Astronomen-Congreß hier gehabt, le congrès Bisch genannt (nämlich der reiche Jude Bischoffsheim, amateur in astronomicis, bestreitet die Kosten des ganzen Congresses und wirklich, man ist entzückt über die von ihm veranstalteten Feste.) Ihm verdankt N<izza> bereits sein Observatorium, insgleichen dessen Unterhaltung, Besoldung der Angestellten, nebst dem, was die Publikationen kosten. Ecco! Jüdischer Luxus in großem Stile! —
Lieber Freund, ich habe Sie dies Mal nicht nur mit großer Dankbarkeit verlassen, auch mit großem Respekt. Bleiben Sie sich treu, ich weiß Ihnen nichts Besseres zu wünschen!
Von Herzen Ihr N.