1887, Briefe 785–968
800. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza, den 13. Febr. 1887.
Lieber Freund,
eben meldet Fritzsch, daß der Druck der fröhlichen Wissenschaft (resp. der verschiedentlichen Nachträge) nunmehr seinen Gang nehmen wird — und somit muß ich Sie wieder, aber hoffentlich für lange zum letzten Male, um Ihre unschätzbare Beihülfe mit Kopf und Augen bitten. Seien Sie nicht böse, lieber Freund, gerade dies Mal geht es nicht ohne Sie. Ich habe nämlich im letzten Oktober so geschwind wie möglich noch ein fünftes Buch zu besagter „Wissenschaft“ hinzu gekritzelt (um dem Ganzen eine Art Gleichwerthigkeit mit der Morgenröthe zu geben, nämlich vom buchbinderischen Standpunkt aus —) und bin jetzt selber einigermaßen neugierig, was ich damals eigentlich geschrieben haben mag. Es ist ganz weg aus meinem Gedächtnisse. Nur weiß ich, daß es einige Noth hatte, meine Ansichten gleichsam zurückzubilden und eine Art Condescendenz zu einem früheren Stand- und Gesichtspunkte des Lebens aufrecht zu erhalten. Nehmen wir an, daß es nicht immer gelungen ist: bitte aber, seien Sie dies Mal mißtrauischer als sonst gegen mich und schreiben Sie mir, unter Umständen, einfach „das und das geht nicht, gefällt mir nicht, warum nicht lieber so und so etc. etc. etc..“
Es giebt eine längere Vorrede, und, zum Schluß, hinter dem fünften Buch, eine Handvoll Lieder: so daß Alles sich schönstens in Liederlichkeit auflöst.
— Herr Fritzsch wird sich gegen Sie zu entschuldigen haben (er ist schrecklich beschäftigt, sogar mit der Verlobung einer Tochter); es versteht sich von selbst, daß Ihnen alle die Werke, an deren Vorreden Sie Ihre „liebe Noth“ gehabt haben, zugehen. —
— Der Zufall hat mir ins Ohr geflüstert, daß Mottl schließlich doch abgelehnt hat und auch von Berlin schon mit großem Bedauern fahren gelassen worden ist. In wie fern das mich gefreut hat, ist schwer auszudrücken: aber ich glaube immer noch, daß dieser Mann Ihre Oper aufführen wird…
Ganz von ferne ist mir die Einsicht aufgegangen, daß wir Beide, in Hinsicht auf Mittel und Wege, diese Oper zur Aufführung zu bringen, uns wie die Kinder benommen haben. Himmel, was wird hier in Frankreich Alles in Scene gesetzt, ehe ein Componist dazu kommt, sein Werk zu hören! Das ist ein rabbiater Kampf von Jahren, mit allen Künsten und Listen des neunzehnten Jahrhunderts. Das wesentlichste der anständigen Mittel (denn die Mehrzahl ist unanständig) ist ein aesthetisches Programm, das Lärm macht. Ein Werk, das nicht eine „Theorie“ hinter sich hat und im Stande ist, Partei zu machen, vor allem Parteien zu beleidigen, kommt nicht mehr an’s Licht der Welt, sei es ein Gemälde, sei es eine Oper. Gehört man (— zufällig… ) zu keiner Partei, so muß man hier à tout prix alle Parteien frondiren — dann geht es, vielleicht…
Dabei fällt mir ein, daß ich sehr dankbar sein würde, wenn Sie mir einen Einblick in Ihre Münchner Recensionen gestatteten. Ich will Einiges daraus lernen, das verspreche ich Ihnen.
— Kennen Sie Dostoiewsky? Außer Stendhal hat Niemand mir so viel Vergnügen und Überraschung gemacht: ein Psychologe, mit dem „ich mich verstehe“. —
Und nun habe ich Ihnen noch nicht einmal für Ihren guten Brief gedankt, und für Ihren Muth, Ihre Tapferkeit, Ihre Treue für Venedig — was mir Alles so gegenwärtig ist und so verehrungswürdig erscheint! Ich bitte Sie von Herzen darum: lassen Sie den Himmel wieder in Ihre Bäume wachsen! Ihr Freund
Nietzsche