1887, Briefe 785–968
904. An Ferdinand Avenarius in Dresden
Sils-Maria, Oberengadin, den 10. Sept. 1887.
Werthester Herr,
auf dergleichen Anfragen habe ich bisher immer Nein gesagt; es hilft nichts, ich muß es auch in diesem Falle thun. Sehen Sie darin nicht mehr als eine der fünftausend Necessitäten, die ein resoluter Wille zur Unabhängigkeit in sich schließt. Man ist nicht ungestraft „Philosoph“. Ich will schlechterdings nichts mit Zeitschriften zu thun haben: sie sind immer Parteischriften, und am meisten dann, wenn sie es selbst nicht zu sein glauben. — Ich kann, zu meinem Bedauern, hier weder von meiner alten Theorie, noch alten Praxis abgehn. —
Übrigens giebt man mir diese meine „Enthaltsamkeit“ artig genug zurück: man „enthält sich“ auch meiner. Wenigstens sagt mir dies Gottfried Keller (— „mein Name sei in deutschen Zeitschriften so gut wie nicht mehr vorhanden“.) Ich selbst, drei und vierzig Jahre alt, überdies, wie ich fürchte, Vater von fünfzehn Büchern (vielleicht verzähle ich mich? die Ziffer ist schrecklich) — ich selbst habe über mich noch nicht drei Zeilen gelesen, die mich interessirt hätten, irgend etwas Gründliches, Kluges, psychologisch-Zurechnungsfähiges. Dies als factum, nicht als „Seufzer“.
Um Ihnen andrerseits meine Antheilnahme zu beweisen, mache ich Sie, werthester Herr Lyricus, auf zwei Männer aufmerksam, deren feiner und freier Geschmack in artibus schon mehrfach meine Bewunderung erregt hat (— und die zu schreiben verstehn) Der Eine ist ein deutscher Musiker, der seit Jahren in Venedig lebt, in einer dedaigneusen Zurückgezogenheit; gelegentlich, sehr gelegentlich greift er auch zur Feder (unter irgend einem Pseudonym z. B. Thomas Mürner): man müßte ihn dazu verführen, seine Urtheile über Musik und Musiker niederzuschreiben. Ich gebe Ihnen die genaue Adresse, mit der Bitte um Diskretion: Signor Enrico Köselitz
San Canciano calle nuova 5256
Venezia
Der Andre ist ein Schweizer, Professor Spitteler (Neuveville im Kanton Bern); vielleicht ist er Ihnen unter dem Namen „Tandem“ bekannt? Ein paar ästhetische Aufsätze von ihm, die ich zufällig kennen lernte (z. B. eine „Kritik des modernen Orchesters“ von einem kulturhistorischen Gesichtspunkte aus, insgleichen über Theater, „theatralisch“, dies als Problem gefaßt) verriethen mir einen ungewöhnlich nachdenklichen und feinen Kopf (— er schreibt lustig: welches Glück!)
Beide Männer mögen Ihnen bestens empfohlen sein; ihre Mitarbeiterschaft würde der verwöhntesten Zeitschrift zur Ehre gereichen. Erinnern Sie sich, bitte, dieser obscurorum virorum wenn Sie sich etwa meiner wieder erinnern sollten…
Hochachtungsvoll
Ihr
ergebenster Prof. Dr. Nietzsche
vir obscurissimus.
Ad vocem Musik: hüten Sie Sich vor allen Wagnerianern, die schreiben, — das ist Hornvieh oder Sumpf.