1887, Briefe 785–968
812. An Emily Fynn in St. Moritz
Nice (France) rue des Ponchettes 29 <um den 4. März 1887>
Hochverehrte Frau,
indem ich Ihnen meinen allerherzlichsten Dank für eine so warm geäußerte Theilnahme ausdrücken möchte, darf ich nicht verschweigen, daß es eine unverdiente Theilnahme ist: denn so wunderlich es klingen mag, ich bin viel zu gut bei der ganzen Katastrophe weggekommen als daß ich irgend ein Anrecht auf Theilnahme hätte. Die ganze Sache war äußerst interessant —, noch mehr absurd; und nicht weniger oder mehr gefährlich als etwa eine Fahrt mit einem train rapide des Nachts. Die Zeitungen haben schrecklich übertrieben; umgekehrt scheint es mir, daß die wirklich herzzerreißenden Vorgänge, die in den kleinen Küstenorten zwischen Genua und San Remo sich abspielten, viel zu wenig die öffentliche Theilnahme erregt haben. In Nizza lag das Centrum der Bewegung jedenfalls nicht unter der Erde, sondern in den Nerven: man hat hier einen Lärm gemacht, daß ganz Europa sich für unser „Schicksal“ interessiert! Wie viel Briefe bekam ich! Wie viel Aufforderungen zur Flucht! Aber in meinem persönlichen Falle muß ich bekennen, daß ich es nicht einmal zum Schrecken gebracht habe und zum Beispiel an jenem Morgen, wo das ganze Nizza ins Freie stürzte und einem Tollhause glich, in der ungestörtesten Gemüthsruhe auf meinem Zimmer arbeitete; es ist mir passiert, in zwei Briefen, die ich an jenem Tage schrieb, das Ereigniß des Tages zu vergessen!
Sie sehen, wie unwürdig ich Ihres Mitgefühls bin!
— In der ersten Nacht darauf, wo Alles im Freien campirte, schlief ich ruhig bis 2 Uhr zu Hause: da kam ein stärkerer Stoß wieder, die Hunde heulten rings, ich kleidete mich an und machte eine Wanderung durch die verschiedenen Theile Nizzas um zu sehen, zu welchen Thorheiten die Furcht die Menschen treiben kann. Dies war die interessanteste Wanderung, die ich bisher in Nizza gemacht habe: hinterdrein schlief ich so gut als vorher. —
Anbei folgt die einzige objektive Darstellung des Vorgangs, die ich bisher entdecken konnte — gemacht auf dem Cap des Vorgebirgs von Antibes, welches Sie kennen. —
Ich bleibe noch bis zum 3. April hier und hoffe auch noch über die zu erwartenden schlimmen Tage des Monats (März) den 9ten, den 22ten, und 23ten hinwegzukommen. Jener deutsche Gelehrte nämlich, der mit seiner Prophezeiung (von vorigem November) bis auf den Tag Recht bekommen hat, wird, fürchte ich, auch noch für die weiteren Prophezeiungen Recht bekommen. Doch verspricht er schwächere Stöße — Sonne und Mond sind die Bösewichte, welche unsere arme kleine Erde so beunruhigen. —
(Das Haus, in welchem zwei meiner Werke entstanden sind, ist dermaaßen erschüttert und unhaltbar geworden, daß es abgetragen werden muß. Dies hatte den Vortheil für die Nachwelt, daß sie eine Wallfahrtsstätte weniger zu besuchen hat.)
— Sagen Sie, bitte, Ihrer verehrten Freundin, daß ich diesen Winter über die Gemüths-Eigenschaften des russischen Volks viel nachgedacht habe, dank dem eminenten Psychologen Dostoiewsky dem, was Schärfe der Analyse betrifft, selbst das modernste Paris Niemanden zur Seite zu stellen hat. Man lernt die Russen durch ihn lieben — man lernt sie auch fürchten. Das ist ein Volk, das seine Kräfte noch nicht verbraucht hat, wie die meisten europäischen Völker, weder die Kräfte seines Willens noch die seines Herzens. —
Uns Allen bessere Gesundheit wünschend und mir selbst die Fortdauer einer so gütigen Gesinnung — die ihr Licht selbst über philosophische Einsiedler und Höhlenbären leuchten läßt — verbleibe ich Ihnen und Ihrem verehrungswürdigen Kreise treulich zugethan
als Ihr ergebenster Diener
Prof. Dr. Nietzsche.