1887, Briefe 785–968
868. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria d. 27 Juni 1887
Lieber Freund,
eine schöne Überraschung sonder Gleichen! Etwas, das ich Ihnen niemals vergessen will! Eine umanità und delicatezza, Jemandem erwiesen, der neuerdings vielleicht ein wenig zuviel vom Gegentheil heimgesucht worden ist! Haben Sie Dank: ich gehe den einzelnen Stimmen nach und entdecke überall Feinheiten und Einfälle, mit denen Sie mich beschenkt haben! Was für eine schöne Kunst, wo man so viele nuances in einem minimum von Zeit bemerkbar machen kann! —
Aber nein, Ihre „Lust zu Bülow“ muß wieder kommen, lieber Freund, Sie müssen den Würfel noch einmal werfen — es ist etwas an dieser Combination Bülow-Pollini, das dazu drängt, das Schicksal herauszufordern. Mir scheint dieser Zufall ein Wink: ich habe ziemliches Vertrauen zu dem Wagniß, zu dem ich Sie ganz von Herzen überreden möchte. Bülow’s Charakter erlaubt mancherlei, was den Herrn Mottl und Levi nicht „freisteht“ (obschon Hegar mir noch zuletzt sagte, er begriffe Levi nicht, warum er Ihr Werk nicht aufführe „was könne es ihm machen?“… )
Ich selbst möchte in Bezug auf Bülow jetzt nicht „dazwischen treten“: auch aus delicatezza. Bülow wird über Ihr Werk unbefangener, „unvorsichtiger“, Bülowscher urtheilen, wenn er nicht zugleich meinen Namen hört.
— Ich kann das Ereigniß nicht verschweigen, mit dem ich schlecht fertig werde: oder vielmehr, ich bin innewendig immer noch ganz außer mir. Heinrich von Stein ist todt: ganz plötzlich, Herzschlag. Ich habe ihn wirklich geliebt; es schien mir, daß er mir aufgespart sei für ein späteres Alter. Er gehörte zu den ganz wenigen Menschen, an dessen Dasein ich Freude hatte; auch hatte er großes Vertrauen zu mir. Er sagte noch zuletzt, in meiner Gegenwart kämen ihm Gedanken, zu denen er sonst nicht den Muth fände; ich „befreite“ ihn. Und was haben wir hier oben zusammen gelacht! Er stand im Rufe, nicht zu lachen. Sein zweitägiger Besuch hier in Sils, ohne Nebenabsichten von Natur und Schweiz, sondern direkt von Bayreuth hierher kommend und direkt von mir zu seinem Vater nach Halle zurückreisend — ist eine der seltsamsten und feinsten Auszeichnungen, die ich erfahren habe. Es machte hier Eindruck; er sagte im Hôtel: „ich komme nicht wegen des Engadin“. — Sein letztes Werk, eine Geschichte der Anfänge der Aesthetik (Descartes und so weiter bis Baumgarten, Kant: sehr gelehrt) ist mir gerühmt worden. — Es war bei weitem die schönste species Mensch unter den Wagnerianern: wenigstens soweit ich sie kennen gelernt habe. — Diese Sache thut mir so weh, daß ich immer wieder nicht daran glaube. Nein, was ich mich einsam fühle! Zuletzt stirbt mir auch die gute Malvida weg — wie Viele bleiben dann übrig?? Ich fürchte mich, zu zählen. —
Bleiben Sie mir gut und treu, mein lieber Freund Köselitz! Dankbar
der Ihrige FN.