1887, Briefe 785–968
863. An Franz Overbeck in Basel
Sils-Maria Oberengadin d. 17. Juni 1887.
Lieber Freund,
bis jetzt habe ich auch hier oben nicht viel Besseres gethan als krank sein. Ich kam mit einem heftigen Anfall meines Kopfleidens an, hatte ein 12 stündiges Erbrechen und befand mich in einem jener Zustände, an die mein kleines Zimmer hierselbst leider zu gut gewöhnt ist. Dieser Zustand wurde von einer gründlichen allgemeinen Erkältung abgelöst, mit Fieber, Schlaf- und Appetitlosigkeit, Schwindel, Dumpfheit, Schwäche: so daß ich weniger gehen kann als ich möchte und sogleich in Schweiß gerathe (trotz der Nähe des Schnees: vor meinem Fenster liegt der Rest einer Lawine) Trotzdem freue ich mich, wieder hier zu sein und überhaupt noch da zu sein. …Diese letzten Jahre auszuhalten — das war vielleicht das Schwerste, was mir überhaupt mein Schicksal bisher zugemuthet hat. Nach einem solchen Anrufe, wie mein Zarathustra es war, aus der innersten Seele heraus, nicht einen Laut von Antwort zu hören, nichts, nichts, immer nur die lautlose, nunmehr vertausendfachte Einsamkeit — das hat etwas über alle Begriffe Furchtbares, daran kann der Stärkste zu Grunde gehn — ach, und ich bin nicht „der Stärkste“! Mir ist seitdem zu Muthe als sei ich tödtlich verwundet, es setzt mich in Erstaunen, daß ich noch lebe. Aber es ist kein Zweifel, ich lebe noch: wer weiß, was ich noch Alles zu erleben habe!
Mit Celerina ist es Nichts, stelle Dir vor, der alte General Simon ist eben gestorben, und der Wirth will die ausgemachten Bedingungen nicht aufrecht erhalten. Der Verlust dieses alten strengen mir sehr zugethanen Militärs ist wirklich für mich ein Verlust: er hat so oft mir, um Kantisch zu reden, die „Kritik der praktischen Vernunft“ dargestellt, daß ich nunmehr, im Ausland, wirklich noch ein gut Theil verlassener und „unpraktischer“ daran bin als vorher. Er starb in Siena, 71 Jahre alt. Bei einer kleinen Verschiebung der Dinge im Jahre 1848 wäre er vielleicht einer der einflußreichsten und höchstgestellten Militärs im damaligen Deutschland geworden; er gehörte zur Familie jener begabten Revolutionärs Simon.
In Chur hörte ich, zu meiner wahren Erbitterung, Schumanns Paradis und Peri. Nein, welche schändliche Verweichlichung des Gefühls! Und was für ein Philister und Biedermann schwimmt mitten in diesem See von Limonade gazeuse! Ich bin davon gelaufen — mit einer wahren Sehnsucht nach den kurzweiligen und lustigen Melodien unseres Venediger maëstro. Beiläufig: ich habe ihn zu einem letzten Versuch, seine Oper anzubringen, überredet — Bülow (der jetzt von dem Hamburger Pollini engagirt ist) soll das Werk aufführen. Wenn B<ülow> es nicht thut, thut’s Niemand nicht! Man muß dazu Muth, selbst Paradoxie im Leibe haben.
Treulich Dein N.
Ich bin hier natürlich „bei weitem der erste“ Gast. Wenn Ende des Monats das Geld flüssig wird, sende es, bitte, recommandirt, wie gewöhnlich, Sils-Maria: das genügt. Herzliche Grüße an Deine liebe Frau.