1887, Briefe 785–968
963. An Carl Fuchs in Danzig
Nizza (France) den 14. Dez. 1887 pension de Genève
Lieber und werther Freund,
es war ein sehr guter Augenblick, mir einen solchen Brief zu schreiben. Denn ich bin, fast ohne den Willen dazu, aber gemäß einer unerbittlichen Notwendigkeit, gerade mitten darin, mit Mensch und Ding bei mir abzurechnen und mein ganzes „Bisher“ ad acta zu legen. Fast Alles, was ich jetzt thue, ist ein Strich-drunter-ziehn. Die Vehemenz der inneren Schwingungen war erschrecklich, die letzten Jahre hindurch; nunmehr, wo ich zu einer neuen und höheren Form übergehn muß, brauche ich zuallererst eine neue Entfremdung, eine noch höhere Entpersönlichung. Dabei ist es wesentlich, was und wer mir noch bleibt. —
Wie alt ich eigentlich schon bin? Ich weiß es nicht; ebensowenig, wie jung ich noch sein werde. —
Ich betrachte mit Vergnügen Ihr Bild; es scheint mir viel Jugend und Tapferkeit drin zu sein, gemischt, wie es sich ziemt, mit beginnender Weisheit (und weißen Haaren? ..)
In Deutschland beschwert man sich stark über meine „Excentricitäten“. Aber da man nicht weiß, wo mein Centrum ist, wird man schwerlich darüber die Wahrheit treffen, wo und wann ich bisher „excentrisch“ gewesen bin. Zum Beispiel, daß — ich Philologe war — damit war ich außerhalb meines Centrum (womit, glücklicher Weise, durchaus nicht gesagt ist, daß ich ein schlechter Philologe war) Insgleichen: heute scheint es mir eine Excentricität, daß ich Wagnerianer gewesen bin. Es war ein über alle Maaßen gefährliches Experiment; jetzt, wo ich weiß, daß ich nicht daran zu Grunde gegangen bin, weiß ich auch, welchen Sinn es für mich gehabt hat — es war meine stärkste Charakter-Probe. Allmählich disciplinirt Einen freilich das Innewendigste zur Einheit zurück; jene Leidenschaft, für die man lange keinen Namen hat, rettet uns aus allen Digressionen und Dispersionen, jene Aufgabe, deren unfreiwilliger Missionär man ist.
Dergleichen ist sehr schwer aus der Ferne zu verstehn. Meine letzten zehn Jahre waren dadurch über die Maaßen schmerzhaft und gewaltsam. Falls Sie Lust haben sollten, mehr von dieser bösen und problematischen Geschichte zu hören, so seien Ihrer freundschaftlichen Theilnahme die Neuausgaben meiner früheren Schriften empfohlen, insbesondere deren Vorreden. (Anbei bemerkt: mein aus guten Gründen etwas desperater Verleger, der treffliche E. W. Fritzsch in Leipzig, ist bereit, Jedermann diese Neuausgaben auszuhändigen, vorausgesetzt, daß man ihm dafür einen längeren Essai (über „Nietzsche en bloc“) verspricht. Die größeren Litteraturblätter, wie Lindau’s Nord und Süd, sind reif dafür, einen solchen Essai nöthig zu haben, da eine wirkliche Unruhe und Aufregung über die Bedeutung meiner Litteratur sich bemerkbar macht. Bisher hat noch Niemand genug Muth und Intelligenz gehabt, mich den lieben Deutschen zu entdecken: meine Probleme sind neu, mein psychologischer Horizont ist bis zum Erschrecken umfänglich, meine Sprache kühn und deutsch, vielleicht giebt es keine gedankenreicheren und unabhängigeren deutschen Bücher als die meinen)
— Der Hymnus gehört auch zu diesem „Strich-drunter-ziehn“. Können Sie ihn nicht sich einmal singen lassen? Man hat mir von verschiedenen Seiten schon die Aufführung in Aussicht gestellt (zb. Mottl in Carlsruhe) Seine eigentliche Bestimmung soll freilich sein, einmal „zu meinem Gedächtniß“ gesungen zu werden: er soll von mir übrig bleiben, gesetzt, daß ich selbst übrig bleibe.
Behalten Sie mich in guter Erinnerung, mein lieber Herr Doktor: ich danke Ihnen auf das Herzlichste dafür, daß Sie mir auch in der zweiten Hälfte Ihres Jahrhunderts zugethan bleiben wollen.
Ihr Freund
Nietzsche