1887, Briefe 785–968
809. An Malwida von Meysenbug in Rom
Nizza, rue des Ponchettes 29 au premier <Ende Februar 1887>
Verehrte Freundin,
— ich hoffe, daß Sie von mir keine Nachrichten über unser Erdbeben erwarten? Ich für meine Person bin dabei nicht „umgefallen“ und habe selbst an jenem Morgen des Schreckens, wo Nizza einem Tollhause glich, mit großer Gemüthsstille in meinem Zimmer gearbeitet (das Haus war sonst verlassen); auch ist es mir passirt, in einem Brief, den ich an jenem Tage schrieb, das Ereigniß des Tages zu vergessen. — Das Erdbeben hat übrigens dem Hause, in welchem der dritte und vierte Theil des Zarathustra niedergeschrieben wurde, so zugesetzt, daß es abgetragen wird. — Vergänglichkeit!…
— Eben langte ein großer Brief meiner Schwester an, der das ausführlichste Bild ihrer jetzigen mühevollen, aber wohlgemuthen Existenz giebt, überdies aber die entscheidende Nachricht von dem glänzend gelungenen Ankauf eines mächtigen Stück Landes bringt — eine lange erwartete Nachricht: das neue Besitzthum zu Coloniezwecken ist größer als manches deutsche Fürstenthum und voll des herrlichsten Hochwaldes: man will nämlich Holzhandel treiben, mit Argentinien, das keine Wälder hat. Wie ferne klingt mir das in den Ohren! Holzhandel! Südamerika! Und dabei wird selbst die antisemitische Propaganda fortgetrieben… Meine Schwester ist gründlich „ausgewandert“, gesetzt daß sie jemals bei mir heimisch gewesen ist: was ich nicht glaube. —
Was machen denn alle die jungen oder weniger jungen Mädchen, mit denen bekannt zu sein ich Ihrer Freundschaft verdanke (lauter kleine verrückte Thiere, unter uns gesagt)? — Daß ich einen „sehr verehrenden“ Brief von Frl. von Salis erhalten habe, theilte ich Ihnen wohl schon mit; dagegen keinen von Frl. Rohr außer einer Empfangsanzeige (ich hatte ihr nämlich mein letztes Buch geschickt und mag sie damit hübsch in Schrecken gesetzt haben) Von Frl. von Schirnhofer „seit Jahren“ keine Nachricht; ein Versuch, etwas über sie durch ihre Freundin Frl. Wildenow in Zürich zu erfahren, mißrieth. Ein Frl. Druscowicz soll sich neuerdings durch ein altkluges Litteraten-Geschwätz an meinem Sohne Zarathustra versündigt haben: es scheint, durch irgend ein Verbrechen habe ich die weiblichen Federkiele gegen meine Brust gerichtet — und so ist’s Recht! Denn, wie meine Freundin Malvida spricht: „ich bin schlimmer noch als Schopenhauer.“
Es scheint wirklich, daß ich in meinen letzten Briefen sei es mit Ihnen, sei es mit mir selber, ganz unerlaubte Scherze getrieben habe: und es ist schön, daß Sie dergleichen nicht krumm nehmen. Im Grunde mache ichs jetzt mit Jedermann so, instinktiv, überdies mit Wohlwollen — ich glaube nicht mehr daran, daß irgend Jemand Etwas von mir, an mir, über mich „begreift“. Fünfzehn Jahr Einsamkeit — was sage ich! Zwei und vierzig Jahre — denn so alt bin ich.
Vielleicht erfüllt sich mein Wunsch, Sie wiederzusehn, verehrte Freundin, endlich! endlich! nämlich im nächsten Winter. Nicht daß ich es versprechen möchte; aber ein Gefühl, daß meine Geduld für Nizza zu Ende geht, macht mich von besseren Orten, besseren Menschen träumen. Bis zum 3. April bleibe ich noch hier.
Es grüßt Sie in alter Verehrung
Ihr
Friedrich Nietzsche.