1887, Briefe 785–968
925. An Elisabeth Förster in Asuncion
Venedig 15 Okt <1887>
Mein liebes Lama,
heute ist, wenn mich nicht Alles täuscht, mein Geburtstag: was kann ich Besseres an ihm thun, als dem alten Lama einen Brief schreiben? Denn man soll wenigstens den kleinen guten Rest von natürlichen „Bindebänderchen“ noch festhalten, wenn man übrigens, wie es im Schicksal eines Philosophen liegt, verurtheilt ist, so unangebunden und abseits wie möglich zu leben. Letzterem Ideale habe ich mich in den letzten 10 Jahren tapfer angenähert: ein kleiner Beweis dafür mag es sein, daß heute nur ein einziger gratulierender Brief an mich eingelaufen ist: der unsrer guten Mutter. Von ihr bin ich inzwischen sorgsam über die Fortschritte der Colonisation unterrichtet worden; und aus dem Tone einer gewissen fröhlichen Zuversicht, der aus Deinen eignen Briefen klingt, mein liebes Lama, entnehme ich eigentlich noch Besseres: Ihr selber schreitet vorwärts und nicht nur Eure Colonisation. Ich wünschte, nicht so gänzlich den Tendenzen und Aspirationen meines Herrn Schwagers mich entgegengesetzt zu fühlen, um mit dem Gelingen seiner Unternehmung noch gründlicher sympathisiren zu können. So aber, wie es steht, habe ich mit einiger Noth bei mir auseinanderzuhalten, was ich persönlich in Eurem Falle wünsche und was ich sachlich vielleicht daran verwünsche. Reden wir von angenehmeren Dingen. Von diesem Sommer her habe ich Dir noch mehrere herzliche Grüße auszurichten: denn Sils-Maria bringt immer eine Anzahl Menschen zusammen, die mir ein Stück meiner und unsrer Vergangenheit vor Augen stellen. Dies Mal war Basel daselbst glänzend vertreten, nämlich mit der Kopfzahl von 36 Personen (viele Kinder dabei) Frau Allioth-Vischer (ehemals Sally) und ich — wir haben uns auf <das> artigste gegen einander benommen; sie gedachte viel der „guten alten Zeit“, das jetzige Leben mit den deutschen Professoren in Basel scheint jetzt grundverschieden. Dann hat Deussen mich auf ein paar Tage besucht, auf einem liebenswürdigen Umwege Berlin—Sils—Athen. Er brachte mir seine Ernennung zum Professor mit: die erste Philosophie-Professur eines anerkannten Schopenhauerianers, noch dazu in Berlin! Insgleichen hat Frl. von Salis sich 6 Wochen in Sils aufgehalten, um sich von den Strapazen der Doktorpromotion zu erholen; sie hatte eine kranke kleine Freundin bei sich, die Tochter des Prof. Kym, und ich habe Humanität genug gehabt, um mich dieser im Grunde unerquicklichen, wie sehr auch achtbaren Weiblichkeiten so gut ich konnte anzunehmen. Meine englisch-russische Gesellschaft war dies Mal in Maloja im Grandhôtel; so gab es nur einige Besuche hin und her, auch noch auf der Herreise nach Venedig (— wir verlebten einen prachtvollen September-Nachmittag am Comersee zusammen) Vom Tode H<einrich> von Steins sage ich nichts; wieder ein Ring weniger in der noch so kleinen Kette meiner menschlichen Beziehungen. Es verwundete mich wie eine persönliche Beraubung. Ebenso that mir der Tod des alten General Simon sehr weh; auch ist er in Hinsicht auf mein Leben im Süden eine ernstliche Einbuße, denn dieser alte Mann vertrat bei mir „die praktische Vernunft“ (eigentlich lebe ich nur noch dank seinen guten Rathschlägen). Freund Köselitz grüßt auf das Herzlichste; er lebt hier in seiner Muschel (Venedig) geschützt und behütet, gut versorgt, in jedem Punkte besser als früher: so daß meine absurde, aber aus Gesundheitsgründen absolut gebotene Vagabondage aus einem ruppigen Kämmerchen ins andre, als „garçon meublé“, wie ich mich nenne, hier ihr Gegenstück findet. Die Gesundheit, in diesem Frühjahr wieder auf das Tiefste beunruhigt und beunruhigend, hat im Sommer wieder Fortschritte gemacht; die Anfälle wurden seltener, die geistige Thätigkeit konnte wieder aufgenommen werden. Meine „Litteratur“ ist jetzt auf die Beine gestellt; nach der letzten Berechnung habe ich jetzt im Ganzen 800 Thaler (= 3000 frs.) Druckkosten gehabt (und nichts verdient!) Andrerseits nicht die geringste Aussicht, daß einmal, wenn mein Hauptwerk fertig ist, es auf andrem Wege zur Welt kommt als durch „Selbstdruck“. Meine Stellung hat sich präcisirt: die Abneigung gegen meine Denkweise ist überall aufgewacht, wo man nur aufgehört hat, mich zu verwechseln (wie früher allgemein) Vergieb mir in Hinsicht auf diese Zukunftssorge (nämlich um die Ermöglichung meines Hauptwerks, in dem sich das Problem und die Aufgabe meines Lebens concentrirt), wenn ich mich jetzt in Geldsachen unfreiwillig ängstlich und zögernd benehme. Ich verstehe meine Lage jetzt und habe keine Illusion mehr: dies ist auch ein Fortschritt.
So! Nun habe ich wieder mit dem alten Lama geplaudert! Dir und Deinem Bernhard die besten Wünsche
Deines F.
Adresse für den Winter: Nizza, France pension de Genève pet. rue St. Etienne