1887, Briefe 785–968
887. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Freitag… Sils-Maria, Tag des Monats mir völligunbekannt. <12. August 1887>
Schnell noch ein Briefchen an meine gute Mutter. Es steht ein Gewitter am Himmel, Dein altes Geschöpf befindet sich nicht gerade zum Besten, in Sonderheit machen die Augen wieder rechte Sorge. In der Hauptsache aber ist es bis jetzt gegangen: es gab viel zu thun, „der Geist“ hat immer gute Miene gemacht — und das Körperchen auch: ein paar Tage mit bösem Kopfschmerz und Erbrechen, wie immer, abgerechnet. Es ist auch hier dies Jahr wärmer; auch fällt es mir auf, daß ich niemals in meinem Leben so viel Wasser getrunken habe als diesen Sommer. Die Mahlzeiten immer noch so, wie ich Dir zuletzt schrieb: nur habe ich das Gemüse Mittags weggelassen. Ein Wiel’scher Schinken ist eingetroffen, aus der Kuranstalt in Eglisau, in der nach dem Tode des Dr. Wiel seine Methode fortlebt, auch seine Arten, Schinken für Magenkranke herzustellen (es gehört eine Spezialität in der Mästung der Schweine dazu, wie man mir sagt) Die Adresse bekam ich von Frl. von Salis, sie ihrerseits vom englischen Consul in Zürich. Das Pfund Schinken (im Ganzen) zu 1 1/2 frs. (12 Silbergroschen) Übrigens läßt Dir Frl. von Salis, jetzt Doktorin (der Geschichte: ihre Dissertation handelt von der Mutter des Kaiser Heinrich IV) die herzlichsten Grüße durch mich übermitteln. Meine englisch-russische Gesellschaft ist in Maloja, immer noch, und schreibt fleißig an mich. Kürzlich ein großer Maskenball daselbst, wobei Miss Fynn als russische Bäuerin Aufsehn erregt hat. Meine alte Meysenbug ist wieder in Versailles, immer noch sehr betrübt über den Tod ihrer Schwester Laura. Sie wünscht so sehr, daß ich diesen Winter zu ihr nach Rom komme; sie denkt, es könnte vielleicht ihr letzter Winter sein. Der Herbst (d. h. Oktober bis Mitte November) ist einstweilen für Venedig festgesetzt, nicht ohne Furcht meinerseits vor dem Sprung aus dem lufttrockensten Stück Europas in das luftfeuchteste (Auch die Wärmedifferenz ist enorm: unser Sommer hier oben, im Durchschnitt 10 Gr. Cels. entspricht dem Durchschnitt eines Januars in Nizza) Aber ich muß meinen Venediger Freund und maëstro etwas ermuthigen: zuletzt thut mir seine Musik wohl wie… die gute reine helle Luft hier oben. Man schreibt mir, daß der berühmte Componist Johannes Brahms (jetzt in der Schweiz) sich sehr mit meinen Büchern abgiebt. Für die Herrn Musiker, scheint es, hat Dein altes Geschöpf etwas Anziehendes. Übrigens druckt man jetzt meinen „Hymnus an das Leben“ Chor mit Orchester: das Einzige, was von meinen Compositionen erscheinen soll, damit man einmal etwas hat, das zu meinem Gedächtniß gesungen werden kann. (Verlag von E. W. Fritzsch.)
Meine besten Wünsche zu dem neuen Vorhaben meines unruhigen und unternehmungslustigen Schwagers. Nun! Nun! Eine landwirtschaftliche Akademie — und ein alter Schulmeister und Volksredner an der Spitze: das ist vielleicht etwas für Südamerikaner. Für mich ist’s nichts. Ich liebe jede Art Fachmann.
„Wunschzettelchen“, auf Wunsch, meine liebe Mutter! Bitte, keinen Honig! (das letzte Mal ist er mir schlimm bekommen) Aber sonst sehr gern die guten Dinge, von denen Du schreibst. Dann zwei Cravatten, eine große breite, zum Umlegen und eine zum Anstecken. Endlich: aus der Apotheke in der Herrenstraße 100 gramm Rhabarber in Stücken. Und bitte, sobald als möglich. Es grüßt Dich in herzlicher Liebe
Dein altes Geschöpf.
Mache meinen lieben Onkels Edmund und Oskar, von deren zu erwartendem Besuche Du schreibst, die schönsten Complimente in meinem Namen. Nun bin ich bald 43 Jahr - - -
…Und ich habe Dir nicht einmal für Deinen gütigen Brief gedankt! Verzeihung!
N. B. „Muthgen“ ist natürlich die Mutter der Großmama N<ietzsche>. Der Bruder, der Prof. Dr. theol. Krause in Königsberg, wurde, auf Goethes Veranlassung, der Nachfolger Herder’s, als Generalsuperintendent von Weimar. Ad notam für Herrn Archivrath B<urkhart>.