1887, Briefe 785–968
911. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria, Donnerstag. <15. September 1887>
Lieber Freund,
daß Sie einen so guten Eindruck von den zwei ersten Abhandlungen haben, macht mich glücklich. Nun kommt noch die dritte: in etwas andrer Tonart, anderem Tempo (mehr „Finale“ und Rondo), und, vielleicht, noch verwegener concipirt. Das Stärkste aber ist die „Vorrede“: wenigstens kommt darin das starke Problem, das mich beschäftigt, zum kürzesten Ausdruck. —
Was Venedig betrifft, so wollen wir es bei der Verabredung lassen, von der meine letztabgesandte Karte redete, — daß ich nämlich den nächsten Dienstag Abend, mit dem Zuge wie gewöhnlich, eintreffe. Hier friere ich zu sehr, ich kann kaum schreiben: der Herbst ist wesentlich kälter als andre Jahre (und trüber, regnerischer: was das Gefühl für die Kälte verschärft) Ich schwankte, aufrichtig, zwischen Venedig und — Leipzig: letzteres zu gelehrten Zwecken, denn ich habe in Hinsicht auf das nunmehr zu absolvirende Hauptpensum meines Lebens noch viel zu lernen, zu fragen, zu lesen. Daraus würde aber kein „Herbst“, sondern ein ganzer Winter in Deutschland: und, Alles erwogen, räth mir meine Gesundheit für dies Jahr dringend noch von diesem gefährlichen Experimente ab. Somit läuft es auf Venedig und Nizza hinaus: — und auch, von Innen her geurtheilt, brauche ich jetzt die tiefe Isolation mit mir zunächst noch dringlicher als das Hinzulernen und Nachfragen in Bezug auf 5000 Einzelne Probleme.
Denn in der Hauptsache steht es gut: der Ton dieser Abhandlungen wird Ihnen verrathen, daß ich mehr zu sagen habe als in denselben steht.
Die Wohnungsfrage, lieber Freund, steht ganz bei Ihnen. Die Nähe des St. Marco-Platzes ist mir lieb. Zu Gunsten der casa Fumagalli mache ich geltend, daß sie mir nicht mehr fremd ist, daß die Damen anständige und gute Manieren haben, daß Alles reinlich ist; aber das Licht war schlimm für meine Augen, auch die Decke zu niedrig. Eine chaise longue (um mich auszustrecken) habe ich nöthig: ich bin so viel krank. — Was die Hôtels betrifft, so glaube ich, daß man z. B. in dem Hôtel am St. Marco-Platze (heißt es nicht Albergo San Marco?) einzelne Zimmer miethen kann (mit Aussicht auf den Platz), ohne im Übrigen zum sonstigen Zubehör des Hôtellebens (Table d’hôte usw) verpflichtet zu sein? Denn eine völlig unabhängige Diät ist für mich eine Hauptsache. (Ich habe hier den ganzen Sommer allein gegessen, und immer dasselbe.) Kein Wein, keine Schnäpse: soviel habe ich „begriffen“.
Das Bett muß mit einer Zanzariera geschützt sein (wie auch in Nizza)
Gesetzt, daß meine Gesundheit nicht protestirt, so würde ich gern den Aufenthalt auf 2 Monate projektiren: vor dem 20. November in Nizza einzutreffen hat wenig Sinn (— Erfahrung des letzten Jahres!)
Gute Leute, zu denen ich Vertrauen haben kann, sind die Hauptsache bei der Wohnungs-Frage; insgleichen Reinlichkeit. Denn ich bin in Bezug auf Menschen und Sachen (sonderlich Betten) von einer unangenehmen und beinahe nervösen Geneigtheit zum Ekel: was das Leben mir sehr erschwert hat.
Im Übrigen liebe ich Ihre Stadt, lieber Freund, obschon sie den großen Fehler hat, daß sie stinkt. Nizza, als Stadt und „Mensch“, liebe ich nicht; aber es stinkt nicht. Complexität des „Herzens“!
Hoffentlich thun keine Telegramme weiter noth. Ich will C. G. Naumann benachrichtigen, daß er die Correkturen nunmehr auch für mich nach Venedig schickt.
In herzlicher Freude über die Nähe unseres Wiedersehns
Ihr N.