1887, Briefe 785–968
924. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Venedig, Montag <10. Oktober 1887>
Meine liebe Mutter,
ich danke Dir herzlich für Deinen Brief, der mich erheiterte; auch brachte er sehr gute Nachrichten über unsre Südamerikaner. Es scheint in der That, daß das Lama ihrer dortigen Aufgabe auf das Tapferste nachkommt, — insgleichen daß sie eine Aufgabe hat, bei der ihre Talente sich frei und natürlich entfalten können: mehr darf man eigentlich vom Leben nicht wünschen. Wenn die Sache geräth, so hat sie (wie mir wenigstens vorkommen will) den Löwenantheil am Gelingen. Die Männer geben in solchen Fällen allerdings die Initiative, aber meistens auch das Malheur hinzu. — Die Zeit bisher in Venedig war im Ganzen nicht ungünstig; im Grunde habe ich seit 10 Jahren keinen Ort für den Herbst gewählt, der sich so wohlthätig erwiesen hätte, wie dies Venedig. Allerdings auch ein Wetter ohne Vergleich; klar, frisch, rein, wolkenlos, fast wie in Nizza. Unsern Köselitz finde ich besser eingerichtet (würdiger, distinguirter, unabhängiger) als ich es je gewesen bin. Die alte vornehme Familie, in deren Haus er wohnt, lebt ganz für ihn, hat seit seinem Wiederkommen die besten Zimmer ihm abgetreten, kocht für ihn: so daß er auch besser genährt ist als man es sonst im Süden wird. In dieser verbesserten Lage hat er wieder wunderschöne Musik gemacht, die sich auf das Glücklichste von dem Wagnerischen Kampf- und Krampfwesen unterscheidet. Wir Beide sind nicht gar zu leicht nach dem lieben Vaterlande zu verführen; die Bornirtheit daselbst macht mich lachen; und wenn ich es vielleicht nöthig habe, dorthin zurückzukehren (zu gelehrten Zwecken), so werde ich mir erst mit einem naturwissenschaftlichen Sprüchlein Muth machen, zum Beispiel:
„Um das Rhinozeros zu sehn,
„Beschloß nach Deutschland ich zu gehn.“
Ich fand hier beieinander, was in den deutschen Zeitschriften Alles über mein letztes Buch gedruckt worden ist: ein haarsträubendes Kunterbunt von Unklarheit und Abneigung. Bald ist mein Buch „höherer Blödsinn“, bald ist es „diabolisch berechnend“, bald verdiente ich, dafür aufs Schaffot zu kommen (wenigstens nach der Art der früheren Zeiten, sich gegen unangenehme Freigeister zu wehren) bald werde ich als „Philosoph der junkerlichen Aristokratie“ verherrlicht, bald als zweiter Edmund von Hagen verhöhnt, bald als Faust des neunzehnten Jahrhunderts bemitleidet, bald als „Dynamit“ und Unmensch vorsichtig bei Seite gethan. Und dies Stück Erkenntniß in Bezug auf mich hat ungefähr 15 Jahre Zeit gebraucht; hätte man etwas von meiner ersten Schrift „Geburt der Tragoedie“ verstanden, so hätte man schon damals in gleicher Weise sich entsetzen und bekreuzigen können. Aber damals lebte ich unter einem hübschen Schleier und wurde vom deutschen Hornvieh verehrt, gleich als ob ich zu ihm gehörte. Nun, dies hat seine Zeit gehabt. Unzweifelhaft werde ich immer noch einige Jahre früher in Frankreich „entdeckt“ sein, als im Vaterlande.
Meine Absicht ist, am 21. Oktober von hier nach Nizza überzusiedeln, zu einem langen arbeitsamen Winter.
Dein altes Geschöpf.
In Hinsicht auf eine frühere Frage: man zahlt Strafe, wenn etwas Geschriebenes in ein Paket eingelegt wird: ich rede aus Erfahrung.