1887, Briefe 785–968
960. An Georg Brandes in Kopenhagen
Nizza den 2. Dez. 1887.
Verehrter Herr,
ein paar Leser, die man bei sich selbst in Ehren hält und sonst keine Leser — so gehört es in der That zu meinen Wünschen. Was den letzten Theil dieses Wunsches angeht, so sehe ich freilich immer mehr, daß er unerfüllt bleibt. Um so glücklicher bin ich, daß zum „satis sunt pauci“ mir die pauci nicht fehlen und nie gefehlt haben. Von den Lebenden unter ihnen nenne ich (um solche zu nennen, die Sie kennen werden) meinen ausgezeichneten Freund Jakob Burckhardt, Hans von Bülow, Ms. Taine, den Schweizer Dichter Keller; von den Todten den alten Hegelianer Bruno Bauer und Richard Wagner. Es macht mir eine aufrichtige Freude, daß ein solcher guter Europäer und Cultur-Missionär, wie Sie es sind, fürderhin unter sie gehören will: ich danke Ihnen von ganzem Herzen für diesen guten Willen.
Freilich werden Sie dabei Ihre Noth haben. Ich selber zweifle nicht daran, daß meine Schriften irgendworin noch „sehr deutsch“ sind: Sie werden das freilich viel stärker empfinden, verwöhnt, wie Sie sind, durch sich selbst, ich meine durch die freie und französisch-anmuthige Art, mit der Sprache umzugehn (eine geselligere Art im Vergleich zu der meinen) Viele Worte haben sich bei mir mit andren Salzen inkrustirt und schmecken mir anders auf der Zunge als meinen Lesern: das kommt hinzu. In der Skala meiner Erlebnisse und Zustände ist das Übergewicht auf Seiten der seltneren ferneren dünneren Tonlagen gegen die normalen mittleren. Auch habe ich (als alter Musikant zu reden, der ich eigentlich bin) ein Ohr für Viertelstöne. Endlich — und das wohl am meisten macht meine Bücher dunkel — es giebt in mir ein Mißtrauen gegen Dialektik, selbst gegen Gründe. Es scheint mir mehr am Muthe, am Stärkegrade seines Muthes gelegen, was ein Mensch bereits für „wahr“ hält oder noch nicht… (Ich habe nur selten den Muth zu dem, was ich eigentlich weiß)
Der Ausdruck „aristokratischer Radikalismus“, dessen Sie sich bedienen, ist sehr gut. Das ist, mit Verlaub gesagt, das gescheuteste Wort, das ich bisher über mich gelesen habe. Wie weit mich diese Denkweise schon in Gedanken geführt hat, wie weit sie mich noch führen wird — ich fürchte mich beinahe mir dies vorzustellen. Aber es giebt Wege, die es nicht erlauben, daß man sie rückwärts geht; und so gehe ich vorwärts, weil ich vorwärts muß.
Damit ich meinerseits nichts versäume, was Ihnen den Zugang zu meiner Höhle, will sagen Philosophie erleichtern könnte, soll mein Leipziger Verleger Ihnen meine früheren Schriften en bloc übersenden. Ich empfehle in Sonderheit deren neue Vorreden zu lesen (sie sind fast alle neu herausgegeben) Diese Vorreden möchten, hintereinander gelesen, vielleicht etwas Licht über mich geben, vorausgesetzt, daß ich nicht dunkel an sich (dunkel an und für mich —) bin, als obscurissimus obscurorum virorum…
— Dies wäre nämlich möglich. —
Sind Sie Musiker? So eben giebt man ein Chorwerk mit Orchester von mir heraus, einen „Hymnus an das Leben“. Derselbe ist bestimmt, von meiner Musik übrig zu bleiben und einmal „zu meinem Gedächtniß“ gesungen zu werden: angenommen, daß sonst genug von mir übrig bleibt. Sie sehen, mit was für posthumen Gedanken ich lebe. Aber eine Philosophie, wie die meine, ist wie ein Grab — man lebt nicht mehr mit. „Bene vixit, qui bene latuit“ — so steht auf dem Grabstein des Descartes. Eine Grabschrift, kein Zweifel!
Es ist auch mein Wunsch, Ihnen einmal zu begegnen.
Ihr
Nietzsche
NB. Ich bleibe diesen Winter in Nizza. Meine Sommeradresse ist: Sils-Maria, Oberengadin, Schweiz. — Meine Universitäts-Professur habe ich aufgegeben. Ich bin drei Viertel blind.