1887, Briefe 785–968
951. An Franz Overbeck in Basel
Nizza, den 12 Nov. 87 pension de Genève
Lieber Freund,
zu Deinem Geburtstage habe ich bereits ein paar kleine Gaben vorausgeschickt: den Hymnus an das Leben, insgleichen das neueste (und für längere Zeit letzte) Buch. Heute habe ich nicht nur meine Wünsche für Dein bevorstehendes Lebensjahr hinzuzufügen (für Deine Gesundheit, für Deinen Kampf mit Rheumatism und Scholastik!..): vor Allem den Ausdruck meiner Verehrung und Dankbarkeit für die unwandelbare Treue, die Du mir in der härtesten und unverständlichsten Zeit meines Lebens bewiesen hast. Es scheint mir, daß sich eine Art Epoche für mich abschließt; ein Rückblick ist mehr als je am Platz. Zehn Jahre Krankheit, mehr als zehn Jahre; und nicht so einfach Krankheit, für die es Ärzte und Arzneien gäbe. Weiß eigentlich irgend Jemand, was mich krank machte? was mich Jahre lang in der Nähe des Todes und im Verlangen nach dem Tode festhielt? Es scheint mir nicht so. Wenn ich R. Wagner ausnehme, so ist mir Niemand bisher mit dem Tausendstel von Leidenschaft und Leiden entgegengekommen, um mich mit ihm „zu verstehn“; ich war dergestalt schon als Kind allein, ich bin es heute noch, in meinem 44ten Lebensjahre. Dieses schreckliche Jahrzehend, das ich hinter mir habe, hat mir reichlich zu kosten gegeben, was Allein-sein, Vereinsamung bis zu diesem Grade, bedeutet: die Vereinsamung und Schutzlosigkeit eines Leidenden, der kein Mittel hat sich auch nur zu wehren, sich auch nur „zu vertheidigen“. Mein Freund Overbeck abgerechnet (und drei Menschen noch dazu) hat sich in den letzten zehn Jahren fast Jedermann, den ich kenne, mit irgend einer Absurdität an mir vergriffen, sei es mit empörenden Verdächtigungen, sei es mindestens in der Form schnöder Unbescheidenheit (zuletzt noch Rohde, dieser unverbesserliche Flegel) Das hat mich, um das Beste davon zu sagen, unabhängiger gemacht; aber auch härter vielleicht und menschenverachtender als ich selbst wünschen möchte. Glücklicher Weise habe ich esprit gaillard genug, um mich gelegentlich über diese Erinnerungen ebenso lustig zu machen, wie über alles Andre, was nur mich betrifft; und überdies habe ich eine Aufgabe, die mir nicht erlaubt*, viel an mich zu denken (eine Aufgabe, ein Schicksal oder wie man’s nennen will) Diese Aufgabe hat mich krank gemacht, sie wird mich auch wieder gesund machen, und nicht nur gesund, sondern auch wieder menschenfreundlicher und was dazu gehört. —
Das Geld ist glücklich in meine Hände gelangt, und ohne daß ich vorher in irgend welche Schwierigkeit gerathen wäre. Mit Nizza halte ich es jetzt so, wie mit Sils-Maria: ich versuche mich mit ihm zu arrangieren und stelle mir die guten und bewiesenen Faktoren in den Vordergrund: sein belebendes und erheiterndes Clima, seine Lichtfülle (welche mir einen Gebrauch meiner Augen gestattet, der außer allem Verhältniß zu dem steht, was sie anderwärts, namentlich in Deutschland, leisten) Die pension de Genève, tüchtig verbessert und mit viel gutem Willen der Zukunft entgegensehend, hat mir dies Mal ein wirkliches Arbeitszimmer hergerichtet (mit Licht- und Farbenmodifikationen, welche für mich absolut wichtig sind); ein kleiner Natron-Carbon-Ofen ist von Naumburg aus an mich unterwegs. Ich zahle etwas mehr Pension als früher (5 1/2 frs. per Tag, Wohnung und 2 Mahlzeiten: meinen Morgenthee besorge ich selbst); aber, unter uns gesagt, jeder andre Gast zahlt mehr (8—10 frs.) Beiläufig: eine Tortur für meinen Stolz!!!
— Du weißt, was ich jetzt von mir verlange: meine Orte dafür sollen Nizza und Sils-Maria bleiben (Venedig als Zwischenakt: ich habe eine herrliche Erinnerung an Köselitz, der seine gütige und hohe Seele sich zu bewahren gewußt hat, trotz aller Art Enttäuschung, und jetzt Musik macht, für die ich kein anderes Wort mehr habe als „klassisch“ (Zwei Sätze einer Symphonie z. B., der schönste „Claude Lorrain“ in Musik, den ich kenne) Dir und Deiner lieben Frau einen glücklichen und guten Tag wünschend, Dein N.
Prof. Deussen sendet Dir seinen Gruß; er war diesen Herbst in Athen. Ich bekam von ihm ein Lorbeer- und Feigenblatt geschickt, dort gepflückt, wo die Akademie Piatos gestanden hat.
In diesen Wochen wird auch die Rechnung C. G. Naumann’s über die Herstellungskosten des neuen Buchs einlaufen; Du bekommst sofort von mir Mittheilung.