1887, Briefe 785–968
786. An Meta von Salis in Zürich
Nice (France) pension de Genève 1 Januar 1887.
Hochgeehrtes Fräulein,
nehmen Sie meinen herzlichen Dank für Brief, Sendung, Gesinnung und Alles, was mir von Ihnen gemeldet und bezeugt wird. Auch dafür, daß Sie dem kleinen albergo in Rapallo Ehre erwiesen haben (vielleicht erzählte ich Ihnen, daß in demselben der erste Theil meines Zarathustra niedergeschrieben wurde, übrigens unter so erbärmlichen Verhältnissen des Leibes und der Seele, daß die Erinnerung daran mir übel macht) Nach meiner Erfahrung aus diesem Herbste muß ich Ihnen, für eine zweite Reise an diese Küste, einen Aufenthalt in Ruta anempfehlen (albergo d’Italia, vortreffliche Zimmer): das ist der kleine Ort auf dem Dach des promontorio, welches bis Portofino vorstößt. Da oben, in bester Luft, giebt es eine Fels- und Waldlandschaft zu erforschen, die wie ein Stück griechischer Archipelagus anmutet. Die einsamste Welt, die ich bisher fand, sehr Zarathustrisch. Leider waren daselbst zwei mißglückte Deutsche meine beständige Fußfessel: so daß mir auch dieser Ort im Gedächtniß etwas vergällt und verekelt ist. — Aus den Worten Ihres Briefs habe ich Eins herausgenommen, das Wort Gegner: habe ich Gegner? Da ist eine Lücke in meinem Bewußtsein; zum Mindesten habe ich noch nicht daran zu leiden gehabt. Das Mißverständniß über mich ist einstweilen zu groß, als daß ich wirkliche Gegner oder auch wirkliche Freunde haben könnte; auch werde ich mich weder darüber beklagen, noch die Geduld verlieren. Gewiß ist, daß mir meine „Freunde“ hundert Mal mehr Noth gemacht haben als irgendwelche Abgeneigtheiten. Auch der Dr. Welti, der mich durch ein liebenswürdiges clair-obscur von Verehrung hindurch sieht, macht es nicht besser, wie mir scheint. —
Daß Schloß Marschlins nicht verkauft ist, hat mich gefreut zu hören: obwohl es mir schwer fallen möchte zu sagen, warum. Man soll sein Altes halten: es hält uns. Eben lese ich „notre monde moderne, qui se fait de plus en plus improvisateur et momentané“. —
Ihnen, hochgeehrtes Fräulein, mich dankbar empfehlend verbleibe ich Ihr
ergebenster
Dr. Friedrich Nietzsche