1887, Briefe 785–968
876. An Franz Overbeck in Basel
Sils-Maria, Sonntag <17. Juli 1887>
Lieber Freund,
eine Bitte an Dich als „Kirchenvater“ — mir fehlt dringlich eine Stelle des Tertullian, in der diese schöne Seele die Freuden voraus schildert, welche er im „Jenseits“ genießen werde beim Anblick der Martern seiner Feinde und Antichristlich-Gesinnten: die Martern werden sehr ironisch und bösartig spezialisirt in Anspielung auf die ehemaligen Berufsarten dieser Feinde. Ist es Dir möglich, Dich dieser Stelle zu erinnern? und sie mir eventuell zu senden? (originaliter oder auch übersetzt: ich habe sie deutsch nöthig)
Mit bestem Danke für Deine letzten Karten, in denen mich das Wort „Beschämung“ ebenso gerührt hat als Dein Interesse für jene Vorreden erfreut. Es bleibt Dir nicht erspart, in den nächsten Tagen die fröhl<iche> Wissenschaft zu erhalten: fasse Dich in Gottergebenheit, die Gefahr geht damit zu Ende — und vielleicht findest Du auf einem kühlen Berge ein Stündchen und Plätzchen, um Dir diese Art „Wissenschaft“ zu Gemüthe zu führen.
Vorgestern habe ich meinen englisch-russischen Damen einen Besuch gemacht, sie sind dies Jahr in Maloja — wir waren heiter und herzlich zusammen; das Hôtel übrigens in einem angenehmen Luxus. Auch hat man mir ein kleines Concert „servirt“ — ein sehr begabter vornehmer Holländer spielte (Grieg, Jensen, Parsifal)
Gestern habe ich durch Frau Werthemann an die „Jungfere“ Marie Walter einen Auftrag betreffs westphäl<ischen> Schinkens nach Basel abgehn lassen.
Nota bene zu meiner letzten Karte. Ich habe dem braven Archivrath und Goetheforscher einen schönen Schreck gemacht, indem ich ihm (durch meine Mutter) vorstellen ließ, es sei unwahrscheinlich, daß 1778 „Muthgen“ mit dem jungen Dichter befreundet gewesen sei — gemäß dem Umstande, daß „Muthgen“ im December dieses Jahres das Licht der Welt erblickt habe. Der Unglückliche hatte seine „Entdeckung“ schon drucken lassen! — nun bleibt noch die Möglichkeit, daß das Muthgen des Goetheschen Tagebuchs die Mutter meiner Großmutter ist. Der Zusammenhang mit „Goethens“ steht übrigens unter allen Umständen fest; auch ist die Berufung des Prof. Krause als Nachfolgers von Herder das Werk Goethe’s.
Mit herzlichen Grüßen an Dich und Deine liebe Frau
Dein Nietzsche.