1887, Briefe 785–968
952. An Jacob Burckhardt in Basel
Nice (France) pension de Genève14. Nov. 1887
Verehrtester lieber Herr Professor,
auch diesen Herbst bitte ich wieder um die Erlaubniß, Ihnen etwas von mir vorlegen zu dürfen, moralhistorische Studien unter dem Titel Zur Genealogie der Moral: auch dies Mal wieder wie alle Male nicht ohne eine gewisse Unruhe. Denn — ich weiß es nur zu gut — alle Schüsseln, welche von mir aufgetischt werden, enthalten so viel Hartes und Schwerverdauliches, daß zu ihnen sich noch Gäste einladen und so verehrte Gäste wie Sie es sind! eigentlich eher ein Mißbrauch freundschaftlich-gastfreundschaftlicher Beziehungen ist. Man sollte mit solcher Nußknackerei hübsch bei sich bleiben und nur die eignen Zähne in Gefahr bringen. Gerade in diesem neuesten Falle handelt es sich um psychologische Probleme härtester Art: so daß es fast mehr Muth bedarf, sie zu stellen als irgend welche Antworten auf sie zu riskiren. Wollen Sie mir noch einmal Gehör schenken?… Jedenfalls bin ich diese Abhandlungen Ihnen schuldig, weil sie im engsten Bezuge zu dem letztübersandten Buche („Jenseits von Gut und Böse“) stehn. Es ist möglich, daß ein Paar Hauptvoraussetzungen jenes schlecht zugänglichen Buchs hier deutlicher herausgekommen sind; — wenigstens gieng meine Absicht dahin. Denn alle Welt hat mir über jenes Buch das Gleiche gesagt: daß man nicht begreife, um was es sich handle, daß es so etwas sei wie „höherer Blödsinn“: zwei Leser ausgenommen, Sie selbst, hochverehrter Herr Professor, und andererseits einer Ihrer dankbarsten Verehrer in Frankreich, Ms. Taine. Verzeihung, wenn ich mir mitunter zum Troste sage: „ich habe bis jetzt nur zwei Leser, aber solche Leser!“ — Das sehr innerliche und schmerzhaft-verwickelte Leben, das ich bisher gelebt habe (und an dem meine im Grunde stark angelegte Natur Schiffbruch gelitten hat) hat nachgerade eine Vereinsamung mit sich gebracht, gegen die es kein Heilmittel mehr giebt. Mein liebster Trost ist immer noch der, der Wenigen zu gedenken, die es unter ähnlichen Bedingungen ausgehalten haben, ohne zu zerbrechen und sich eine gütige und hohe Seele zu bewahren gewußt haben. Es kann Niemand Ihrer dankbarer gedenken, hochverehrter Mann! als ich es thue.
Treulich und unveränderlich
Ihr ergebenster
Nietzsche.
Meine Wünsche für Ihre Gesundheit zu guterletzt! Dieser Winter scheint hart zu werden. Oh wären Sie hier!!