1887, Briefe 785–968
856. An Heinrich Köselitz in Venedig
Adresse, nach wie vor: Chur, Rosenhügel. d. 8. Juni 1887.
Lieber Freund,
noch schnell ein paar Worte, bevor ich mich auf die Wanderschaft begebe: wer weiß, wie lange es dauert, bis ich wieder Tinte und Feder zur Hand nehmen kann — denn mein Reiseziel ist dies Mal ungewiß (Lenzer Haide oder Celerina oder Sils oder?) Zudem drängt es mich, Ihnen ein Faktum zu melden, auf das hin von Ihnen vielleicht etwas combinirt werden könnte: nämlich der Hamburger Pollini (zu dem, wie ich mich erinnere, Sie einiges Vertrauen in puncto Muth und Unabhängigkeit haben) ist für diesen Winter mit Hans von Bülow einig geworden: dabei soll es unter anderem eine vollständige Mozart-Serie abgeben. Nun scheint es mir immer noch, daß Bülow der Mann ist, der Ihre Oper aufzuführen wagen wird: er steht unabhängiger da als Mottl und Levi, ja er liebt gelegentlich eine outrance von Unabhängigkeit ad oculos zu demonstriren. Es wäre der Versuch zu machen, ob er es nicht in Ihrem Falle thäte. Daß Sie ehemals ein kleines Brief-rencontre mit ihm gehabt haben, kommt einfach nicht in Betracht: Bülow hat in Hinsicht auf solche Dinge eine noblesse, auf die man bauen kann. Er hat sich zehn Mal mit Brahms überworfen (und mit wem nicht?) aber das hindert ihn nicht: umgekehrt, es spornt ihn an, einer von ihm einmal erkannten Kraft und Originalität sich zu widmen. Erwägen Sie, lieber Freund: sagen Sie ihm, weshalb Sie Ihr Werk unaufführbar glauben, wenn es nicht von ihm gewagt wird, — charakterisiren Sie Ihre Musik mit sieben unzweideutigen Prädikaten (im Gegensatz zu Wagner und zu Neßler, den einzigen „Zeitgemäßen“ der jetzigen deutschen Seele); vielleicht schadet es nichts, wenn Sie die Verantwortung für den ganzen Schritt auf mich legen (obwohl ich aus allen möglichen Gründen nicht von mir aus zuerst an Bülow über diese Sache schreiben möchte)
Ich erzähle noch nebenbei, daß Brahms eine romantische Oper componirt — er ist am Thunersee — der Text ist von V. Widmann, zurechtgemacht nach dem Lustspiel von Gozzi „das laute Geheimniß“. Dabei habe ich mir gesagt, daß der genannte Dr. Widmann zuletzt auch Ihren Corsischen Text ausdichten könnte.
Endlich habe ich eine Bitte: sagen Sie mir, wie viel Exemplare vom 4ten Theil Zarathustra bei Ihnen in Venedig liegen. Vielleicht habe ich damit etwas vor.
Die Leipziger Buchhändlermesse hat mir ein lehrreiches Resultat abgeworfen. Dies Mal, in Bezug auf Jens<eits> von G<ut> und B<öse> ist buchhändlerischer Seits Alles, was noth thut (und etwas mehr sogar!) gethan worden: also dem Herrn Schmeitzner ist nichts mehr in die Schuhe zu schieben, wie ich es bisher that. Trotzdem — ist das Ergebniß dasselbe wie bei Schmeitzner: oder vielmehr, es ist noch schlechter! Es sind überhaupt nur 114 Exemplare verkauft worden (während allein 66 Exemplare an Zeitungen und Zeitschriften verschenkt worden sind)
Lehrreich! Nämlich man will partout meine Litteratur nicht: und ich — darf mir den Luxus des Druckes nicht mehr gestatten. —
Wenn Sie sich eines alten Wunsches erinnern möchten! Ich würde so gern Ihre critica aus der Münchner Zeit lesen: sind sie frei? (Aber warum bieten Sie Ihre unvergleichlichen Artikel über Venedig nicht lieber der Frankfurter Zeitung an, statt der Süddeutschen Presse?..) Treulich und herzlich Ihr Freund
N.
Schönsten Dank für die ganze Correctur-Noth, die ich Ihnen gemacht habe!!! Wer weiß, vielleicht habe ich fürderhin nichts mehr zu „corrigiren“, ausgenommen mich selbst…