1887, Briefe 785–968
884. An Malwida von Meysenbug in Rom
Sils-Maria, Oberengadin den 30. Juli 1887.
Endlich, meine hochverehrte Freundin, ist mir Ihr gütiges Schreiben zugekommen, nachdem dasselbe eine wahre Odyssee durchgemacht hatte, hin und her durch Schweiz und Deutschland: — es zeigte die Spuren davon, war auf gemacht, hatte alle möglichen Postvermerke am Leibe und sah wie ein altes Schiff aus, dem Etwas zugestoßen ist. Verzeihung! denn zuletzt bin ich die Ursache von dem Allen, mit der Adresse, die ich Ihnen in meinem Churer Brief gab: aber denken Sie, inzwischen ist der Mann, dem zu Liebe ich einen Versuch mit Celerina machen wollte, ein alter preußischer General, gestorben — und somit bin ich wieder in meinem alten Einsiedler-Nest.
Ich nannte einen Todesfall, der mich betrübte; es gab einen zweiten, der mir noch viel mehr zugesetzt hat und den ich kurz darauf erfuhr — Sie werden wissen, wen ich meine: den Tod Heinrich von Stein’s. Ich hatte eigentlich nie daran gezweifelt, daß diese noble Creatur mir gewissermaßen aufgespart sei, für ein späteres Leben, dann wenn diese reiche und tief angelegte Natur wirklich sich entfaltet, wirklich ans Licht gekommen sein würde: denn er war noch erschrecklich jung, weit unter seinem Alter, wie es gerade recht ist bei Bäumen, die auf eine mächtige und lange Bestimmung angelegt sind. Nun bricht der Blitz einen solchen jungen Baum zusammen: das gehört zum Schmerzhaftesten, eine Zeitlang bin ich es keine Minute losgeworden. — —
Der Kampf mit meiner schlechten Gesundheit hat mir auch hier oben, in der bewiesenen Luft des Oberengadin, noch einige Wochen gekostet, ehe ich den Schaden, den mir der Frühling und lauter mir unmögliche Climata und Orte angethan hatten, zum Ausgleich brachte. Ich habe eine so große Aufgabe und Bestimmung auf mir, daß mich alle solche Zeitverluste blutig reizen und erbittern (leider sind es immer auch tiefe Depressions-Zeiten, wo man nicht mehr den Muth zu sich selber aufrecht erhalten kann — die schlimmste Einbuße, die es auf Erden giebt.)
Daß dieser Muth in der Hauptsache aber bei mir Stand hält, trotz jener physiologisch-begründeten Intermittenzen, haben Ihnen vielleicht die neuen Ausgaben von „Morgenröthe“ und „fröhl<icher> Wissenschaft“ bewiesen, welche ich mir erlaubte, an Ihre Versailler Adresse zu schicken. Ich empfehle insbesondere, was neu daran ist: die zwei Vorreden, dann das fünfte Buch der fröhl<ichen> Wissenschaft nebst dessen Anhange: „Lieder des Prinzen Vogelfrei.“ (Die neuen Auflagen der „Geburt der Tragödie“ und von „Menschl<iches>, Allzumenschliches“ (2 Bände) enthalten Wesentliches über meine Beziehung zu Wagner: leider bin ich außer Stande, diese Sachen Ihnen zu senden)
Mit dem schwachsinnigen und eitlen Lanzky, verehrte Freundin, dürfen Sie mich nicht verwechseln: das ist ein Litterat zehnten Ranges, dem ich einen Fußtritt gegeben habe, als ich merkte, welchen Mißbrauch er mit mir und meiner Litteratur zu treiben anfieng. Halten Sie denn eine Seite von seinem süßlichen Gewäsch aus? Es versteht sich von selbst, daß seine „Abendröthe“, von der Sie schreiben, mir absolut unbekannt ist: dergleichen darf bei mir nicht über die Schwelle, ebenso wenig wie Hr. L<anzky> selbst. Das ist ein anscheinend ziemlich gutmüthiger und braver Mensch, aber innerlich corrumpirt: wenn solche mißrathne Creaturen gar noch sich den „Mantel der Weisheit“ umthun, so muß man sie behandeln wie die unverschämtesten Lügner: und das sind sie in der That. — —
Meine ehrerbietigsten Complimente an Herrn und Frau Monod, auch an Frl. Natalie Herzen, und den Ausdruck alter Liebe und Treue für Sie!
Nietzsche.
Fräulein v. Salis ist hier, Doktorin nunmehr: ihre Abhandlung über Agnes von Poitou soll Herrn Prof. Monod zugehn. — Ich bin inzwischen in Beziehung zu Ms. Taine gekommen, er schrieb dieser Tage an mich, sehr liebenswürdig.