1887, Briefe 785–968
885a. An Louise Röder-Wiederhold
Sils-Maria den 3. August 1887.
Verehrte Frau
ich nehme die erste Ruhepause wahr, die eine anstrengende Arbeit mir und meinen Augen läßt, um meinen ganz stillgestellten und eingefrornen Brief-Verkehr mit „der Welt“ wieder in Fluß zu bringen: und da fällt mir zuallererst die angenehme Schuld, Briefschuld ein, die ich gegen Sie noch auf der Seele habe. Es war sehr liebenswürdig, sich dergestalt eines alten schweigsamen Philosophen und Höhlenbärs zu erinnern, wie Sie es mit Ihrem gütigen und klugen Briefe gethan haben. Die Jahre laufen davon, die Menschen auch; es ist wunderlich, was ich seit Sommer 1875 vereinsiedelt bin. Es versteht sich, daß ich mich bemühe, dies natürlich zu finden, sogar etwas wie Auszeichnung aus einem solchen Loose herauszulesen. Doch giebt es Tage, wo ich eine Last darin trage: — das geschieht, um es gerade Ihnen zu sagen, wenn ich wieder einmal mir meine völlige Unfähigkeit ad oculos demonstrirt habe, unsrem Venediger Freunde und maëstro zu Hülfe zu kommen. Dazu gehört ein Darinstecken, ein Mitmachen, etwas wie Amt, Macht, Ansehn unter den Gegenwärtigen und Gegenwärtigsten: — ein Zukunfts-Philosoph läßt seine Freunde bei lebendigem Leibe verhungern, welche absurde Consequenz bringt alles Unzeitgemäß-sein mit sich! — Nebenbei noch gesagt, ich glaube daß mir selber in den letzten Jahren nichts so gefehlt hat wie eine Aufführung der Köselitzischen Oper, der ich hätte beiwohnen können: es wäre ein Labsal, eine Ermuthigung, ein Sieg ersten Ranges für mich gewesen. Man behält nicht viele Dinge lieb, wenn man alt wird, aber die alten immer lieber. Mit fünf, sechs Melodien unsres Venedigers habe ich mir manche schlaflose Nacht zu einer Erquickung umgewandelt: nur darf ich dann nicht daran denken, daß der, dem man so kostbare Dinge zu verdanken hat, wie eine Art Bettler lebt, der nicht bittet, daß man ihm giebt, nein, daß man von ihm nimmt. Das ist Alles so absurd — und andrerseits so alltäglich, so ewig, so natürlich!!!! – Wenn Sie mir schreiben, verehrte Frau, was mir hin und wieder geschrieben wird, daß meine Schriften einen gewissen Einfluß ausüben, so kann ich mir im Grunde dabei immer ein Gefühl der Angst nicht ersparen: nämlich es möchte ein schlimmer Einfluß sein. Vielleicht habe ich bisher in einem kaum erlaubten Maaße gerade Eins immer ganz außer Acht gelassen: daß es Leser giebt. Wäre ich reich genug oder so etwas wie ein principe, der seine eigne Druckerei hätte, so gäbe es keine Leser meiner Schriften — aber wahrscheinlich dennoch diese Schriften. Das gehört zu meinem Unglauben an das Jetzt: ich glaube, daß die Ohren heute für andre Dinge offen stehn sollten, als für meine Dinge. Diese, fürchte ich, richten heute Unfug an, wenn sie heute gehört werden. Mit dem herzlichen Wunsche, daß es sich in Ihrem Falle, verehrte Frau, um eine wirkliche Ausnahme handle — und ich lasse Ausnahmen zu und ehre sie — bin und bleibe ich Ihr dankbar ergebener Nietzsche.