1887, Briefe 785–968
903. An Heinrich Köselitz in Venedig
Donnerstag <Sils-Maria, 8. September 1887>
Lieber Freund,
ich wünschte, es stünde etwas anders mit mir: seit einem Monat ungefähr geht es wieder krebshaft; sollten die Sonnenfinsterniß, Falb und andre „jenseitige“ Gewalten auch bei mir die inneren humores in die Höhe ziehn?… Ich bin so unnütz betrübt, — unnütz, denn im Ganzen Großen hätte ich eher Grund, guter Dinge zu sein. Das Wetter ist miserabel diesen Herbst; viele Tage mit dicker Wolkendecke (das macht bei mir einen Eindruck bis zum Erbrechen) Eine komische Unterbrechung gab es, komisch und rührend: mein alter Freund Deussen aus Berlin erschien (auf der Reise nach Griechenland, mit einem liebenswürdigen Umschweif über Sils: er will Ende Oktober wieder in Berlin sein), brachte seine kleine Frau und seine eben erfolgte Ernennung zum Professor der Philosophie. Der Fall ist historisch: Deussen ist der erste eingeständliche Schopenhauerianer, der eine Professur in Deutschland erhalten hat, — und daß D<eussen> Schopenhauers glühendster Verehrer und Verkündiger ist (übrigens eminent rationell), daran bin ich schuld: er hat mir auf emphatische Weise für die Hauptwendung seines Lebens gedankt. Das Wesentlichere (in meinen Augen) ist, daß er der erste Europäer ist, der von Innen her der indischen Philosophie nahe gekommen ist: er brachte mir seine eben erschienenen Sûtras des Vedânta, ein Buch raffinirter Scholastik des indischen Denkens, in dem der Scharfsinn der modernsten europäischen Systeme (Kantismus, Atomistik, Nihilismus usw) einige Jahrtausende früher vorweg genommen ist (es sind Seiten darin, die wie „Kritik der reinen Vernunft“ klingen und nicht nur klingen) Das Werk ist auf Kosten der Berliner Akademie der Wissenschaften gedruckt; ich nehme an, daß D<eussen> bald genug ihr Mitglied sein wird. Er ist eine Spezialität; auch die sprachgelehrtesten Engländer (wie Max Müller), die ähnliche Ziele verfolgen, sind gegen D<eussen> Esel, weil ihnen „der Glaube fehlt“, das Herauskommen aus Schopenhauer-Kantischen Voraussetzungen. Er übersetzt jetzt die Upanischad’s: was würde Schopenh<auer> für eine Freude haben!!
— Fritzsch schweigt; aufrichtig, der Verkehr mit ihm seit einem Jahre hat mir unsinnig viel Überwindung gekostet. Es ist ein guter Kerl; aber ich will den Tag segnen, wo Alles hübsch zu Ende ist, und es nichts mehr zwischen uns zu verhandeln giebt. — Naumann sandte gestern den 4ten, heute (Donnerstag) den fünften Bogen. — Ich lege den Brief des Herrn Avenarius bei: ich will im Allgemeinen Ja sagen, in Hinsicht darauf, daß es gut ist, einen Ort zu haben, wo man gelegentlich in aestheticis mitreden kann. Dabei habe ich eigentlich mehr an Sie als an mich gedacht. A<venarius> ist ein Dichter (31 Jahre alt), mehr aber noch ein sehr rühriger Vermittler mit buchhändlerischem Instinkt. (Gottfried Keller sprach mir von ihm; er giebt Anthologien der allermodernsten Lyrik Deutschlands heraus und bringt es dabei zu mehreren Auflagen etc)
Frl. von Salis, die diesen Sommer mit ihrer Freundin Kym hier zugebracht hat (übrigens als Doktorin der Geschichte) ist gestern abgereist. Es regnet. Vielleicht auch bei Ihnen? — Ich rechne mir alle die schlimmen Herbste vor, die ich schon durchgemacht habe; bis jetzt ist es noch bei dem Venediger Plane geblieben. Die Frau am Canale grande gefällt mir nicht; ich würde Verdruß haben. Wie viel will man in der casa Petrarca für den Monat? Oder haben Sie etwas Neues in Sicht? — Sonderbar! Der römische Plan ist inzwischen erschüttert, auf eine Weise, die ich am letzten erwartet hätte. Vielleicht ist Rom Unsinn für mich? Und ich krieche wieder nach Nizza? Oh wenn Sie doch in N<izza> lebten! Ich schwöre Ihnen, der Sommer sollte Ihnen daselbst unvergleichlich wohler thun als in V<enedig> (Seewind von 10 Morgens bis 5; dann kühlere Strömung von den Gebirgen her, man geht Abends mit Paletot aus).

Mit herzlichstem Gruß
Ihr
Nietzsche.
Ich habe Ihnen noch gar nicht für Ihren guten Brief gedankt!! (Abreise von hier ca. 20. Sept.)
Durchschnitts-Temperatur des September in Sils 7 Grad Cels. Der Sprung nach Venedig vielleicht zu groß? —