1875, Briefe 412–495
494. An Erwin Rohde in Kiel
Basel den 8 Dez. 1875.
Ach geliebter Freund, ich wußte Dir nichts zu sagen, schwieg, fürchtete und sorgte für Dich, ich mochte nicht einmal fragen, wie es stehe, aber wie oft, wie oft liefen meine mitleidvollsten Gedanken zu Dir! Es ist nun alles so schlimm wie möglich gekommen, und nur Eins könnte noch schlimmer sein: wenn die Sache nicht die furchtbare Deutlichkeit hätte, die sie nun hat. Das Unerträglichste ist doch der Zweifel, das gespensterhaft halb-wirkliche: und dieser Zustand ist doch wenigstens von Dir genommen, unter dem Du hier so gräßlich littest. Was wollen wir nun machen! Ich zerbreche mir den Kopf, wodurch Dir jetzt in irgend welcher Weise genützt werden könnte. Lange hatte ich mir eingebildet, man werde Dir die Diversion des Ortes machen, was ja sehr wichtig ist und Dich nach Freiburg im Breisgau berufen. Aber hinterdrein kommt es mir so vor als ob man gar nicht daran gedacht hätte. Da bleibt denn freilich die Herausgabe Deines Werkes immer das Heilsamste, es ist so etwas nicht ohne einige Freude und fesselt jedenfalls das Nachdenken, auch hat dies Geschäft Stätigkeit und hilft Dir vielleicht über diesen schrecklichen Winter hinweg. Ich erzähle Dir, wie es mir geht. Mit der Gesundheit nicht so, wie ich es eigentlich voraussetzte, als ich die völlige Umänderung meiner hiesigen Lebensweise durchsetzte. Ich liege alle 14 Tage bis 3 Wochen einmal auf 36 Stunden etwa zu Bett, recht gepeinigt, in der Art, wie Du es ja kennst. Vielleicht wird es allmählich besser, aber ich meine immer, daß mir noch nie ein Winter so schwer gefallen sei. Der Tag verläuft so mühevoll, durch neue Collegien usw, daß ich immer am Abend mit aller weiteren Lebenslust fertig bin und mich eigentlich wundere, wie schwer es sich doch lebt. Es scheint sich doch nicht zu lohnen, diese ganze Quälerei, man nützt weder sich noch anderen im Verhältniß zu der Noth, die man sich und andern auflegt! Dies ist die Meinung eines Menschen, der gerade nicht von den Leidenschaften gepeinigt wird — freilich auch nicht von ihnen beglückt wird. In den Ruhestunden für die Augen liest mir meine Schwester vor, und zwar fast immer Walter Scott, den ich gerne mit Schopenhauer den „unsterblichen“ nennen will: so sehr sagt mir seine künstlerische Ruhe, sein Andante zu, ich möchte ihn Dir empfehlen, doch Deinem Geiste ist mit solchen Mitteln nicht immer beizukommen, welche bei mir anschlagen: deshalb weil Du schärfer und schneller denkst als ich; und von der Behandlung des Gemüths durch Romane will ich gar nichts sagen, zumal Du schon gezwungen bist Dir mit Deinem eignen „Roman“ zu helfen. Aber vielleicht liesest Du jetzt noch einmal den Don Quixote — nicht weil es die heiterste, sondern weil es die herbste Lektüre ist, die ich kenne, ich nahm sie in den Sommerferien vor, und alles Persönliche Leid kam mir sehr verkleinert vor, ja als würdig, daß man darüber ganz unbefangen lache und selbst nicht einmal Grimassen dabei mache. Aller Ernst und alle Leidenschaft und alles, was den Menschen an’s Herz geht ist Don Quixoterie, es ist gut dies zu wissen, für einige Fälle; sonst ist es für gewöhnlich besser es nicht zu wissen.
Gersdorff will in den Weihnachtsferien Schritte thun, sich zu verloben. Freund Krug hat einen Knaben bekommen, Dr. Fuchs ist eingeladen, auf Einen Cyclus der Bayreuther Aufführungen im nächsten Jahr vom Patronatsschein meiner Schwester Gebrauch zu machen. Zwei junge gute Musiker und Componisten studiren diesen Winter hier, um meine Vorlesungen zu hören, es sind Freunde Schmeitzners, ich thue mich um Verleger und Orientalisten zur Herausgabe des Tripitaka der Buddhisten aufzureizen. Dr. Deussen hält den ganzen Winter über begeisternde Vorträge über Schopenhauer, jede Woche 3, in Aachen, vor mehr als 300 festen Zuhörern. Baumgartner studirt jetzt hier unter meiner Führung Philologie. In meinem philologischen Seminar habe ich 13 Mann, zum Theil sehr gut begabte Leute. Mein Schüler Brenner ist leidend und mußte fort nach Catania; ich habe ihm für Frl. v. Meysenbug Grüße mitgegeben. Dr. Rée, mir sehr ergeben, hat ein ausgezeichnetes Büchlein, „Psycholog. Beobachtungen“ anonym erscheinen lassen, es ist ein „Moralist“ vom schärfsten Blick, etwas ganz Seltnes von Begabung unter Deutschen. Die Schrift Arnims „Pro nihilo“ ist mir lehrreich gewesen. Wagner’s bleiben bis Ende Januar in Wien. Ich lebe völlig zurückgezogen, mit meiner Schwester und bin zufrieden, wie ein Einsiedler, der keine Wünsche mehr hat als daß es recht schön wäre, wenn es einmal aus wäre.
Nun lebe wohl, lebe erträglich, geliebtester Freund, denke daß wir hier an Dich immer so denken, als ob wir Dir damit unsere Freundschaft fühlen lassen könnten. Das ist nun leider nicht der Fall, und so nimm mit diesen elenden Zeilen fürlieb. Meine Schwester und Overbeck grüßen Dich auf das Theilnehmendste, und ich bleibe Dein
Freund F. N.