1875, Briefe 412–495
440. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Basel den 19/April 1874. ei Herr Jeses! 1875.
Meine liebe Lisbeth, es kommt mir so vor als hätte ich lange nicht geschrieben und als zeigte ich mich gar nicht dankbar für den schönen letzten Brief, den ich so sehr erwartet hatte. Nicht etwa des Geldes wegen; so angenehm mir dies auch kam; sondern weil ich nun endlich wissen wollte, ob die Bayreuther Expedition glücklich zu Ende gekommen sei. Bitte, bestelle mir doch sofort bei Haverkamp einen sehr gewählten ganzen Anzug, eingeschlossen Sommerüberzieher. Mir fehlt es an allem etwas; das Beste wäre es, Du brächtest ihn gleich selber mit nach Basel — verzeih die Vereinigung zweier sehr getrennter Interessen, eines brüderlichen und eines schneidermäßigen. Nämlich: ich rechne ganz merkwürdig bestimmt darauf, daß Du wenigstens mit Hülfe des Rundreisebillets kommst und bald kommst. Der Sommer wird gar zu eintönig; denke Dir daß ich jetzt schon ganz allein bin: Romundt ist seit 10 Tagen ganz fort und Overbeck seit gestern in Zürich. Zur Feier meines Alleinseins hatte Frau Baumann einen Häring mir zum Abendessen gebracht, einen wahren Großvater von Häring, so alt und unzeitgemäß war er. Im Übrigen bin ich immer noch mit meinem Winterhalbjahr nicht fertig, denn es giebt noch Examina, und eben habe ich 20 Hefte zu Ende corrigirt. Ferien-Freuden giebt es nicht, da es noch keine Ferien gab; es sei denn daß ich sieben türkische Bäder genommen habe, was aber auch nicht jedermann glücklich macht. Der Abschied Romundts und was ihm zuvor ging war ein saures Stück Leben und Arbeit; ein Trost, daß Gersdorff der Treue wieder drei Wochen lang sich hier vor Anker gelegt hatte. Jetzt ist er aber längst fort, auch Adolf Baumgartner, der zu Ostern kam, als ganz eiteler Husar und schrecklicher Stutzer: nun, er ist jung und wir sind zotteligalt, wie jener Häring. Dies bringt mich auf meine Nr. 4; an der arbeite ich wieder, danke es mir der Teufel. Und dabei ist das Sommerhalbjahr wieder so nahe, daß auch dies schon Rechte geltend macht. Arbeit, nichts als Arbeit! Da fällt mir ein ora et labora, hast Du schon gehört, daß die Baseler Frommen neulich unter Anführung einiger amerikanischer Schwindler eine ganze Woche gebetet und nicht gearbeitet haben — und Lieder gesungen, englische, wahre Schweine- und Matrosentanzsaal-Liederchen, von Morgens um 7 bis Abends ½10; nun ist in Folge dessen hier der Teufel los, die Pfarrer predigen gegen den Schwindel. Mir ist die Baseler Gesellschaft widerlicher geworden, seitdem sie diese Gassenhauer-Christlichkeit vertragen hat. Ich mache gar keine Besuche mehr. Da fällt mir ein, daß ich neulich doch einen gemacht habe, eine Curiosität, bei Frau Hindermann. Über das Verschwinden des guten Flachkopfs Heinze bin ich recht froh, es war auf die Dauer nicht auszuhalten. Na, überhaupt die ganze deutsche Professorenbande. Aber Heinze ist doch ein merkwürdig geringes Exemplar dieser an sich nicht sehr reizvollen und inhaltsreichen Rasse.
Ich erwarte Dich zu einem ganz langen Bayreuther Gespräch und wie gesagt, bald. Am ersten Mai erscheint der Klavierauszug der Götterdämmerung.
Was macht denn unsre gute Mutter? Und wollt ihr beide zusammen vom Naumburger Nest wegfliegen?
Was gäbe ich drum, wenn ich —
kurzum, es grüßt Dich
herzlich Dein Bruder
Fridericus
Intempestivus.