1875, Briefe 412–495
414. An Malwida von Meysenbug in Rom
Naumburg 2 Jan. 1875.
Liebe hochverehrte Freundin, wenn ich so spät auf einen so ausgezeichneten und jedes Dankes würdigen Brief antworte, so liegt der Grund in meinem curiosen Elend, zu dem jetzt mein Baseler Beruf geworden ist. Ich habe gegenwärtig und für ein paar Semester so viel zu thun, dass ich ordentlich in Betäubung von einem Tag in den andern gelange; so will’s die „Pflicht“ und trotzdem ist mir oft dabei zu Muthe als ob ich mit dieser „Pflicht“ meiner eigentlichen Pflicht nicht nachkäme; und mit der letzteren hängt gewiss der Verkehr mit den wenigen Menschen zusammen, welche — wie Sie — in allem, was sie thun und leben, mich an das, was noth thut, erinnern.
Nun, ich lese griechische Literaturgeschichte und interpretire die Rhetorik des Aristoteles und gebe Stunden über Stunden, die Gesundheit hälts aus, die Augen eingeschlossen, nach der äusserlichen Ansicht der Dinge geht es mir also gut. Dabei aber weiss ich gar nicht mehr, wann ich wieder dazu kommen soll, meinen unzeitgemässen Cyclus fortzusetzen. Mein geheimes aber hoffnungsloses Tichten und Trachten geht auf ein Landgut. Ja, Weisheit mit einem Erbgut! wie Jesus Sirach sagt.
Jetzt habe ich 10 Tage Ferien hinter mir, ich verlebte sie mit Mutter und Schwester und fühle mich recht erholt; ich liess während dem alles Denken und Sinnen hinter mir und machte Musik. Viele tausend Notenköpfchen sind hingemalt worden, und mit einer Arbeit bin ich ganz fertig. Der Hymnus an die Freundschaft ist jetzt zweihändig und vierhändig anzustimmen; seine Form ist diese:
Vorspiel Festzug der Freunde zum Tempel der Freundschaft
Hymnus, erste Strophe.
Zwischenspiel — wie in traurig-glücklicher Erinnerung.
Hymnus, zweite Strophe.
Zwischenspiel, wie eine Wahrsagung über die Zukunft.
Ein Blick in weiteste Ferne.
Im Abziehen: Gesang der Freunde, dritte Strophe und Schluss.
Ich bin sehr zufrieden damit. Wollte Gott, es wäre auch ein andrer Mensch, zumal meine Freunde! Die Dauer der ganzen Musik ist genau 15 Minuten — Sie wissen was darin alles vorgehen kann, gerade die Musik ist ein deutliches Argument für die Idealität der Zeit. Möchte meine Musik ein Beweis dafür sein, dass man seine Zeit vergessen kann, und dass darin Idealität liegt!
Ausserdem habe ich meine Jugend-Compositionen revidirt und geordnet. Es bleibt mir ewig sonderbar, wie in der Musik die Unveränderlichkeit des Characters sich offenbart; was ein Knabe in ihr ausspricht, ist so deutlich die Sprache des Grundwesens seiner ganzen Natur, dass auch der Mann daran nichts geändert wünscht — natürlich die Unvollkommenheit der Technik und s. w. abgerechnet.
Wenn nach Schopenhauer der Wille vom Vater, der Intellect von der Mutter vererbt, so scheint es mir, dass die Musik als der Ausdruck des Willens auch Erbgut vom Vater her ist. Sehen Sie sich in Ihrer Erfahrung um: im Kreise der meinigen stimmt der Satz.
Heute Nachts fahre ich nach Basel zurück, durch hohen Schnee und kräftige Kälte, seien Sie froh, verehrte Freundin, jetzt nicht in unserm Bärenhäuter-Clima zu sein. —
Gestern schrieb Frau Wagner und Gersdorff an mich. Wir hoffen alle in der Mitte dieses Jahres zu den Bayreuther Proben zusammen zu kommen.
Ach könnten Sie doch dabei sein. Und möchte Ihnen dies Jahr erträglich und leicht werden! Und einiges Beglückende und Gute schenken!
Ich sah gestern als am ersten Tage des Jahres mit wirklichem Zittern in die Zukunft. Es ist schrecklich und gefährlich zu leben — ich beneide jeden, der auf eine rechtschaffne Weise todt wird.
Im Übrigen bin ich entschlossen alt zu werden; denn sonst kann man es zu nichts bringen. Aber nicht aus Vergnügen am Leben will ich alt werden. Sie verstehen diese Entschlossenheit.
Mit den herzlichsten Wünschen allezeit
der Ihrige
Friedrich Nietzsche
Meine Schwester wird allernächstens schreiben.