1875, Briefe 412–495
485. An Erwin Roh de in Kiel
<Basel, vermutlich 18. September 1875>
Hier, mein armer, innig geliebter Freund, einen Gruß von mir und zugleich das, was mit Deiner Addresse inzwischen an mich angelangt ist (den Brief mit dem Poststempel Brunnen habe ich aufgemacht, um ihn mit in dieses Couvert stecken zu können, Du verzeihst; ich habe keine größeren Couverts). Bald nach Deiner Abreise kam ein Brief an, den ich sofort per adr. Ribbeck weiter gesandt habe und der wohl in Deinen Händen ist.
Mir geht es seit vorgestern schlecht: Rückfall in schönster Form, Steinabad-Empfindungen, Erbrechen usw. Doch werde ich bald wieder darüber hinaus sein; ich durfte ja nicht hoffen, auf einmal zu genesen, und wer darf das!
Ich dachte gestern an Dich und mich, als ich las, das rauheste Mittelalter sei das Mannesalter, etwas ganz Barbarisches, wo man so zwischen Narr und Weisen in der Schwebe ist. Gerade in dieses Mittelalter und zwar in’s Mittelste desselben führte Dich der Tristan; und es war wirklich recht barbarisch, Dir auch das jetzt noch zuzumuthen!
Aber Du bist jetzt mit dem Segen des Unglücks gesegnet, da müssen wir andern nur darüber denken, Dir das Beste zu geben und zu zeigen, was es sonst noch giebt, selbst wenn es das Gewaltsamste sein sollte. Vielleicht daß wir dann in der Wahl nicht ganz geschickt sind; ich kann Dir gar nicht sagen, wie unvollkommen ich mich fühle, liebster Freund, wenn ich an Dein Leid und Lieben gedenke: gerade als sei ich ein ganz abscheulicher Mischmasch von Narr und Weisen und könne Dir gerade deshalb jetzt so wenig zu Hülfe kommen, weil ich keins von beiden ganz sei.
Wenn es Dich irgendwie lindern könnte, die Gegenwart eines Freundes, wenn auch eines für Deine eigentliche Noth rath- und nutzlosen, um Dich zu haben, o so denke doch ja daran, im Frühwinter nach Basel zu kommen. Mir graut vor Deiner Einsamkeit, wie Dir selber. Und hier fänden wir in der Zweisamkeit wenigstens den Trost eines treulichen Aussprechens und Einander-Gewohntseins, und darauf ließe sich dann wohl auch noch mehr bauen. Ich danke Dir auf das Herzlichste für Deinen Besuch, Vertrauen und Liebe und Herzens-Ungetheiltheit hast Du mir wieder bewiesen, und gerade jetzt! Wie danke ich Dir dafür!
Mit den herzlichsten Wünschen grüße ich Dich sammt meiner Schwester
Dein Freund F. N.