1875, Briefe 412–495
466. An Marie Baumgartner auf Seelisberg
Basel den 14 Juli 1875.
Damit Sie, verehrte Frau, nicht in Ungewissheit und Sorge um mich sind, melde ich heute, dass die Ferien vor der Thür sind und dass ich am nächsten Freitag früh nach dem kleinen Schwarzwald-Bade abfahre. Man hat mir bis zu diesem Tage das Freiwerden von Zimmern in Aussicht gestellt. Ich habe inzwischen zwei erhebliche Anfälle meines Leidens gehabt, so dass ich wieder zu Bett liegen musste. Zuletzt noch gestern. Vom Sängerfest habe ich nichts gesehn und gehört, als ob ich währenddem auf dem Mond oder auf Seelisberg gewesen wäre. Meine Schwester ist nun schon lange von mir fort und hat auch bereits schon von ihrer Naumburger Thätigkeit geschrieben. Bei der Kühle, die hier in der Luft herrscht, denke ich Ihrer mit Bedauern, weil Ihnen nun gewiss die Hitze nicht geschenkt wird, wenn Sie vom Berg herunter kommen.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Güte und die Nachrichten über die Kuranstalt; aber ich glaube wirklich, dass sie für meinen jetzigen Zustand nicht wirksam genug und specifisch, wie die Ärzte sagen, ist. Vor allem trachte ich darnach, einen alten und bewährten Kenner und Beobachter von Magenleiden aller Art zu sprechen; und den finde ich in dem kleinen Bade. Es heisst also
Steinabad
bei Bonndorf,
badischer Schwarzwald.
Heute und morgen habe ich noch Collegien zu geben und eine Menge kleiner Angelegenheiten zu besorgen. Habe ich Ihnen schon von meinem Collegien-Cyclus von 7 Jahren, den ich mir jetzt ausgedacht habe, erzählt? Da wollen wir den Herrn Griechen schön zu Leibe gehen.
Dass ich von aller Schriftstellerei für noch längere Zeit (als 7 Jahre) mich fernhalten muss, wird mir immer deutlicher; es gehört das zu den allmählich erkannten Bedingungen meiner Baseler Gelehrten-Existenz; ich versuche das Kunststück zu leisten, diese Existenz und meine persönliche Bestimmung so in einander zu verknüpfen, dass sie sich nicht schaden, sondern sogar nützen. Darauf bezieht sich auch jener Entwurf. Da heisst es denn: in vielem entsagen, um in der Hauptsache nicht entsagen zu müssen. Sie sehen: nach Muthlosigkeit sieht meine Stimmung am wenigsten aus! Eher nach Ubermuth; denn ich rechne auf lange Lebensstrecken hin, und da hat sich zB. mein Vater verrechnet, der mit 36 Jahren starb.
In Bayreuth ist grosse Arbeit und Mühsal, Kommen und Gehen. Am 1 August beginnen die Orchesterproben. Rohde, Gersdorff und auch wohl Overbedt kommen um die gleiche Zeit hin.
Leben Sie wohl, verehrteste Frau und seien Sie von der Zuneigung und Dankbarkeit
Ihres ergebensten
Dr Friedrich Nietzsche
herzlich überzeugt.